Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 115

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Frieden sein Dasein verträumen oder vertändeln könne, ablocken.      
  02 Aber es lagert sich zwischen ihm und jenem eingebildeten Sitz der      
  03 Wonne die rastlose und zur Entwickelung der in ihn gelegten Fähigkeiten      
  04 unwiderstehlich treibende Vernunft und erlaubt es nicht, in den Stand      
  05 der Rohigkeit und Einfalt zurück zu kehren, aus dem sie ihn gezogen      
  06 hatte (V. 24). Sie treibt ihn an, die Mühe, die er haßt, dennoch geduldig      
  07 über sich zu nehmen, dem Flitterwerk, das er verachtet, nachzulaufen und      
  08 den Tod selbst, vor dem ihn grauet, über alle jene Kleinigkeiten, deren      
  09 Verlust er noch mehr scheuet, zu vergessen.      
           
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Anmerkung.
     
           
  11 Aus dieser Darstellung der ersten Menschengeschichte ergiebt sich: da      
  12 der Ausgang des Menschen aus dem ihm durch die Vernunft als erster      
  13 Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten Paradiese nicht anders, als der      
  14 Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die      
  15 Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft,      
  16 mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand      
  17 der Freiheit gewesen sei. Ob der Mensch durch diese Veränderung gewonnen      
  18 oder verloren habe, kann nun nicht mehr die Frage sein, wenn      
  19 man auf die Bestimmung seiner Gattung sieht, die in nichts als im      
  20 Fortschreiten zur Vollkommenheit besteht, so fehlerhaft auch die ersten      
  21 selbst in einer langen Reihe ihrer Glieder nach einander folgenden Versuche,      
  22 zu diesem Ziele durchzudringen, ausfallen mögen. - Indessen ist      
  23 dieser Gang, der für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechteren zum      
  24 Besseren ist, nicht eben das Nämliche für das Individuum. Ehe die Vernunft      
  25 erwachte, war noch kein Gebot oder Verbot und also noch keine      
  26 Übertretung; als sie aber ihr Geschäft anfing und, schwach wie sie ist, mit      
  27 der Thierheit und deren ganzen Stärke ins Gemenge kam, so mußten      
  28 Übel und, was ärger ist, bei cultivirterer Vernunft Laster entspringen, die      
  29 dem Stande der Unwissenheit, mithin der Unschuld ganz fremd waren.      
  30 Der erste Schritt also aus diesem Stande war auf der sittlichen Seite      
  31 ein Fall; auf der physischen waren eine Menge nie gekannter Übel des      
  32 Lebens die Folge dieses Falls, mithin Strafe. Die Geschichte der Natur      
  33 fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte      
  34 der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk. Für das Individuum,      
  35 welches im Gebrauche seiner Freiheit bloß auf sich selbst sieht,      
  36 war bei einer solchen Veränderung Verlust; für die Natur, die ihren      
           
     

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