|
|
Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 116 |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Zeile: |
Text (Kant): |
|
|
|
|
01 |
Zweck mit dem Menschen auf die Gattung richtet, war sie Gewinn. Jenes |
|
|
|
|
02 |
hat daher Ursache, alle Übel, die es erduldet, und alles Böse, das es verübt, |
|
|
|
|
03 |
seiner eigenen Schuld zuzuschreiben, zugleich aber auch als ein Glied des |
|
|
|
|
04 |
Ganzen (einer Gattung) die Weisheit und Zweckmäßigkeit der Anordnung |
|
|
|
|
05 |
zu bewundern und zu preisen. - Auf diese Weise kann man auch die so |
|
|
|
|
06 |
oft gemißdeuteten, dem Scheine nach einander widerstreitenden Behauptungen |
|
|
|
|
07 |
des berühmten J. J. Rousseau unter sich und mit der Vernunft |
|
|
|
|
08 |
in Einstimmung bringen. In seiner Schrift über den Einfluß |
|
|
|
|
09 |
der Wissenschaften und der über die Ungleichheit der Menschen |
|
|
|
|
10 |
zeigt er ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Cultur mit |
|
|
|
|
11 |
der Natur des menschlichen Geschlechts, als einer physischen Gattung, |
|
|
|
|
12 |
in welcher jedes Individuum seine Bestimmung ganz erreichen sollte; in |
|
|
|
|
13 |
seinem Emil aber, seinem gesellschaftlichen Contracte und |
|
|
|
|
14 |
anderen Schriften sucht er wieder das schwerere Problem aufzulösen: wie |
|
|
|
|
15 |
die Cultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit als einer |
|
|
|
|
16 |
sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so da |
|
|
|
|
17 |
diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite. Aus welchem |
|
|
|
|
18 |
Widerstreit (da die Cultur nach wahren Principien der Erziehung |
|
|
|
|
19 |
zum Menschen und Bürger zugleich vielleicht noch nicht recht angefangen, |
|
|
|
|
20 |
viel weniger vollendet ist) alle wahre Übel entspringen, die das menschliche |
|
|
|
|
21 |
Leben drücken, und alle Laster, die es verunehren*);indessen daß die |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
*) Um nur einige Beispiele dieses Widerstreits zwischen der Bestrebung der Menschheit zu ihrer sittlichen Bestimmung einerseits und der unveränderlichen Befolgung der für den rohen und thierischen Zustand in ihrer Natur gelegten Gesetze andererseits beizubringen, führe ich folgendes an. Die Epoche der Mündigkeit, d. i. des Triebes sowohl als Vermögens, seine Art zu erzeugen, hat die Natur auf das Alter von etwa 16 bis 17 Jahren festgesetzt: ein Alter, in welchem der Jüngling im rohen Naturstande buchstäblich ein Mann wird; denn er hat alsdann das Vermögen sich selbst zu erhalten, seine Art zu erzeugen und auch diese sammt seinem Weibe zu erhalten. Die Einfalt der Bedürfnisse macht ihm dieses leicht. Im cultivirten Zustande hingegen gehören zum letzteren viele Erwerbmittel sowohl an Geschicklichkeit, als auch an günstigen äußern Umständen, so daß diese Epoche bürgerlich wenigstens im Durchschnitte um 10 Jahre weiter hinausgerückt wird. Die Natur hat indessen ihren Zeitpunkt der Reife nicht zugleich mit dem Fortschritte der gesellschaftlichen Verfeinerung verändert, sondern befolgt hartnäckig ihr Gesetz, welches sie auf die Erhaltung der Menschengattung als Thiergattung gestellt hat. Hieraus entspringt nun dem Naturzwecke durch die Sitten und diesen durch jenen ein unvermeidlicher [Seitenumbruch] Abbruch. Denn der Naturmensch ist in einem gewissen Alter schon Mann, wenn der bürgerliche Mensch (der doch nicht aufhört Naturmensch zu sein) nur Jüngling, ja wohl gar nur Kind ist; denn so kann man denjenigen wohl nennen, der seiner Jahre wegen (im bürgerlichen Zustande) sich nicht einmal selbst, viel weniger seine Art erhalten kann, ob er gleich den Trieb und das Vermögen, mithin den Ruf der Natur für sich hat, sie zu erzeugen. Denn die Natur hat gewiß nicht Instincte und Vermögen in lebende Geschöpfe gelegt, damit sie solche bekämpfen und unterdrücken sollten. Also war die Anlage derselben auf den gesitteten Zustand gar nicht gestellt, sondern bloß auf die Erhaltung der Menschengattung als Thiergattung; und der civilisirte Zustand kommt also mit dem letzteren in unvermeidlichen Widerstreit, den nur eine vollkommene bürgerliche Verfassung (das äußerste Ziel der Cultur) heben könnte, da jetzt jener Zwischenraum gewöhnlicherweise mit Lastern und ihrer Folge, dem mannigfaltigen menschlichen Elende, besetzt wird. Ein anderes Beispiel zum Beweise der Wahrheit des Satzes: daß die Natur in uns zwei Anlagen zu zwei verschiedenen Zwecken, nämlich der Menschheit als Thiergattung und eben derselben als sittlicher Gattung, gegründet habe, ist das: ars longa, vita brevis des Hippokrates. Wissenschaften und Künste könnten durch einen Kopf, der für sie gemacht ist, wenn er einmal zur rechten Reife des Urtheils durch lange Übung und erworbene Erkenntniß gelangt ist, viel weiter gebracht werden, als ganze Generationen von Gelehrten nach einander es leisten mögen, wenn jener nur mit der nämlichen jugendlichen Kraft des Geistes die Zeit, die diesen Generationen zusammen verliehen ist, durchlebte. Nun hat die Natur ihre Entschließung wegen der Lebensdauer des Menschen offenbar aus einem anderen Gesichtspunkte, als dem der Beförderung der Wissenschaften genommen. Denn wenn der glücklichste Kopf am Rande der größten Entdeckungen steht, die er von seiner Geschicklichkeit und Erfahrenheit hoffen darf, so tritt das Alter ein; er wird stumpf und muß es einer zweiten Generation (die wieder vom A B C anfängt und die ganze Strecke, die schon zurückgelegt war, nochmals durchwandern muß) überlassen, noch eine Spanne im Fortschritte der Cultur hinzuzuthun. Der Gang der Menschengattung zur Erreichung ihrer ganzen Bestimmung scheint daher unaufhörlich unterbrochen und in continuirlicher Gefahr zu sein, in die alte Rohigkeit zurückzufallen; und der griechische Philosoph klagte nicht ganz ohne Grund: es ist Schade, daß man alsdann sterben muß, wenn man eben angefangen hat einzusehen, wie man eigentlich hätte leben sollen. Ein drittes Beispiel mag die Ungleichheit unter den Menschen und zwar nicht die der Naturgaben oder Glücksgüter, sondern des allgemeinen Menschenrechts derselben sein: eine Ungleichheit, über die Rousseau mit vieler Wahrheit [Seitenumbruch] klagt, die aber von der Cultur nicht abzusondern ist, so lange sie gleichsam planlos fortgeht (welches eine lange Zeit hindurch gleichfalls unvermeidlich ist), und zu welcher die Natur den Menschen gewiß nicht bestimmt hatte, da sie ihm Freiheit gab und Vernunft, diese Freiheit durch nichts als ihre eigene allgemeine und zwar äußere Gesetzmäßigkeit, welche das bürgerliche Recht heißt, einzuschränken. Der Mensch sollte sich aus der Rohigkeit seiner Naturanlagen selbst herausarbeiten und, indem er sich über sie erhebt, dennoch Acht haben, daß er nicht wider sie verstoße; eine Geschicklichkeit, die er nur spät und nach vielen mißlingenden Versuchen erwarten kann, binnen welcher Zwischenzeit die Menschheit unter den Übeln seufzt, die sie sich aus Unerfahrenheit selbst anthut. |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
[ Seite 115 ] [ Seite 117 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|