Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 113 |
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01 | bei sich führt. Das Feigenblatt (V. 7) war also das Product einer weit | ||||||
02 | größeren Äußerung der Vernunft, als sie in der ersteren Stufe ihrer Entwickelung | ||||||
03 | bewiesen hatte. Denn eine Neigung dadurch inniglicher und | ||||||
04 | dauerhafter zu machen, daß man ihren Gegenstand den Sinnen entzieht, | ||||||
05 | zeigt schon das Bewußtsein einiger Herrschaft der Vernunft über Antriebe | ||||||
06 | und nicht bloß, wie der erstere Schritt ein Vermögen ihnen im kleineren | ||||||
07 | oder größeren Umfange Dienste zu leisten. Weigerung war das Kunststück, | ||||||
08 | um von bloß empfundenen zu idealischen Reizen, von der bloß | ||||||
09 | thierischen Begierde allmählig zur Liebe und mit dieser vom Gefühl des | ||||||
10 | bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit anfänglich nur an Menschen, | ||||||
11 | dann aber auch an der Natur überzuführen. Die Sittsamkeit, eine | ||||||
12 | Neigung durch guten Anstand (Verhehlung dessen, was Geringschätzung | ||||||
13 | erregen könnte) andern Achtung gegen uns einzuflößen, als die eigentliche | ||||||
14 | Grundlage aller wahren Geselligkeit, gab überdem den ersten Wink zur | ||||||
15 | Ausbildung des Menschen als eines sittlichen Geschöpfs. - Ein kleiner | ||||||
16 | Anfang, der aber Epoche macht, indem er der Denkungsart eine ganz neue | ||||||
17 | Richtung giebt, ist wichtiger, als die ganze unabsehliche Reihe von darauf | ||||||
18 | folgenden Erweiterungen der Cultur. | ||||||
19 | Der dritte Schritt der Vernunft, nachdem sie sich in die ersten unmittelbar | ||||||
20 | empfundenen Bedürfnisse gemischt hatte, war die überlegte | ||||||
21 | Erwartung des Künftigen. Dieses Vermögen, nicht bloß den gegenwärtigen | ||||||
22 | Lebensaugenblick zu genießen, sondern die kommende, oft sehr | ||||||
23 | entfernte Zeit sich gegenwärtig zu machen, ist das entscheidendste Kennzeichen | ||||||
24 | des menschlichen Vorzuges, um seiner Bestimmung gemäß sich zu | ||||||
25 | entfernten Zwecken vorzubereiten, - aber auch zugleich der unversiegendste | ||||||
26 | Quell von Sorgen und Bekümmernissen, die die ungewisse Zukunft erregt, | ||||||
27 | und welcher alle Thiere überhoben sind (V. 13 - 19). Der Mann, der | ||||||
28 | sich und eine Gattin sammt künftigen Kindern zu ernähren hatte, sah die | ||||||
29 | immer wachsende Mühseligkeit seiner Arbeit; das Weib sah die Beschwerlichkeiten, | ||||||
30 | denen die Natur ihr Geschlecht unterworfen hatte, und noch | ||||||
31 | obenein diejenigen, welche der mächtigere Mann ihr auferlegen würde, | ||||||
32 | voraus. Beide sahen nach einem mühseligen Leben noch im Hintergrunde | ||||||
33 | des Gemäldes das, was zwar alle Thiere unvermeidlich trifft, ohne sie | ||||||
34 | doch zu bekümmern, nämlich den Tod, mit Furcht voraus und schienen | ||||||
35 | sich den Gebrauch der Vernunft, die ihnen alle diese Übel verursacht, zu | ||||||
36 | verweisen und zum Verbrechen zu machen. In ihrer Nachkommenschaft | ||||||
37 | zu leben, die es vielleicht besser haben, oder auch wohl als Glieder einer | ||||||
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