Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 111

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 mit denen ich ihn aber jetzt schon als versehen annehme, um bloß      
  02 die Entwickelung des Sittlichen in seinem Thun und Lassen, welches jene      
  03 Geschicklichkeit nothwendig voraussetzt, in Betrachtung zu ziehen.      
           
  04 Der Instinct, diese Stimme Gottes, der alle Thiere gehorchen,      
  05 mußte den Neuling anfänglich allein leiten. Dieser erlaubte ihm einige      
  06 Dinge zur Nahrung, andere verbot er ihm (III, 2. 3). - Es ist aber      
  07 nicht nöthig, einen besondern jetzt verlorenen Instinct zu diesem Behuf anzunehmen;      
  08 es konnte bloß der Sinn des Geruchs und dessen Verwandtschaft      
  09 mit dem Organ des Geschmacks, dieses letzteren bekannte Sympathie      
  10 aber mit den Werkzeugen der Verdauung und also gleichsam das Vermögen      
  11 der Vorempfindung der Tauglichkeit oder Untauglichkeit einer      
  12 Speise zum Genusse, dergleichen man auch noch jetzt wahrnimmt, gewesen      
  13 sein. Sogar darf man diesen Sinn im ersten Paare nicht schärfer, als er      
  14 jetzt ist, annehmen; denn es ist bekannt genug, welcher Unterschied in der      
  15 Wahrnehmungskraft zwischen den bloß mit ihren Sinnen und den zugleich      
  16 mit ihren Gedanken beschäftigten, dadurch aber von ihren Empfindungen      
  17 abgewandten Menschen angetroffen werde.      
           
  18 So lange der unerfahrne Mensch diesem Rufe der Natur gehorchte,      
  19 so befand er sich gut dabei. Allein die Vernunft fing bald an sich zu      
  20 regen und suchte durch Vergleichung des Genossenen mit dem, was ihm      
  21 ein anderer Sinn als der, woran der Instinct gebunden war, etwa der      
  22 Sinn des Gesichts, als dem sonst Genossenen ähnlich vorstellte, seine      
  23 Kenntniß der Nahrungsmittel über die Schranken des Instincts zu      
  24 erweitern (III, 6). Dieser Versuch hätte zufälligerweise noch gut genug      
  25 ausfallen können, obgleich der Instinct nicht anrieth, wenn er nur nicht      
  26 widersprach. Allein es ist eine Eigenschaft der Vernunft, daß sie Begierden      
  27 mit Beihülfe der Einbildungskraft nicht allein ohne einen darauf gerichteten      
  28 Naturtrieb, sondern sogar wider denselben erkünsteln kann, welche im      
  29 Anfange den Namen der Lüsternheit bekommen, wodurch aber nach und      
  30 nach ein ganzer Schwarm entbehrlicher, ja sogar naturwidriger Neigungen      
  31 unter der Benennung der Üppigkeit ausgeheckt wird. Die Veranlassung,      
  32 von dem Naturtriebe abtrünnig zu werden, durfte nur eine Kleinigkeit      
  33 sein; allein der Erfolg des ersten Versuchs, nämlich sich seiner Vernunft      
           
     

[ Seite 110 ] [ Seite 112 ] [ Inhaltsverzeichnis ]