Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 110 |
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01 | obgleich nicht ohne einen durch Vernunft an Erfahrung geknüpften | ||||||
02 | Leitfaden, thue, gerade dieselbe Linie treffe, die jene historisch vorgezeichnet | ||||||
03 | enthält. Der Leser wird die Blätter jener Urkunde (1. Mose Kap. II - VI) | ||||||
04 | aufschlagen und Schritt vor Schritt nachsehen, ob der Weg, den Philosophie | ||||||
05 | nach Begriffen nimmt, mit dem, welchen die Geschichte angiebt, | ||||||
06 | zusammentreffe. | ||||||
07 | Will man nicht in Muthmaßungen schwärmen, so muß der Anfang | ||||||
08 | von dem gemacht werden, was keiner Ableitung aus vorhergehenden | ||||||
09 | Naturursachen durch menschliche Vernunft fähig ist, also: mit der Existenz | ||||||
10 | des Menschen; und zwar in seiner ausgebildeten Größe, weil er der | ||||||
11 | mütterlichen Beihülfe entbehren muß; in einem Paare, damit er seine | ||||||
12 | Art fortpflanze; und auch nur einem einzigen Paare, damit nicht sofort | ||||||
13 | der Krieg entspringe, wenn die Menschen einander nahe und doch einander | ||||||
14 | fremd wären, oder auch damit die Natur nicht beschuldigt werde, | ||||||
15 | sie habe durch die Verschiedenheit der Abstammung es an der schicklichsten | ||||||
16 | Veranstaltung zur Geselligkeit, als dem größten Zwecke der menschlichen | ||||||
17 | Bestimmung, fehlen lassen; denn die Einheit der Familie, woraus alle | ||||||
18 | Menschen abstammen sollten, war ohne Zweifel hiezu die beste Anordnung. | ||||||
19 | Ich setze dieses Paar in einen wider den Anfall der Raubthiere gesicherten | ||||||
20 | und mit allen Mitteln der Nahrung von der Natur reichlich versehenen | ||||||
21 | Platz, also gleichsam in einen Garten unter einem jederzeit milden | ||||||
22 | Himmelsstriche. Und was noch mehr ist, ich betrachte es nur, nachdem es | ||||||
23 | schon einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit gethan hat, sich | ||||||
24 | seiner Kräfte zu bedienen, und fange also nicht von der gänzlichen Rohigkeit | ||||||
25 | seiner Natur an; denn es könnten der Muthmaßungen für den Leser | ||||||
26 | leicht zu viel, der Wahrscheinlichkeiten aber zu wenig werden, wenn ich | ||||||
27 | diese Lücke, die vermuthlich einen großen Zeitraum begreift, auszufüllen | ||||||
28 | unternehmen wollte. Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; | ||||||
29 | er konnte sprechen (1. B. Mose Kap. II, v. 20),*) ja reden, d. i. nach | ||||||
30 | zusammenhängenden Begriffen sprechen (V. 23), mithin denken. Lauter | ||||||
31 | Geschicklichkeiten, die er alle selbst erwerben mußte (denn wären sie anerschaffen, | ||||||
32 | so würden sie auch anerben, welches aber der Erfahrung widerstreitet); | ||||||
*) Der Trieb sich mitzutheilen muß den Menschen, der noch allein ist, gegen lebende Wesen außer ihm, vornehmlich diejenigen, die einen Laut geben, welchen er nachahmen und der nachher zum Namen dienen kann, zuerst zur Kundmachung seiner Existenz bewogen haben. Eine ähnliche Wirkung dieses Triebes sieht man auch noch an Kindern und an gedankenlosen Leuten, die durch Schnarren, [Seitenumbruch] Schreien, Pfeifen, Singen und andere lärmende Unterhaltungen (oft auch dergleichen Andachten) den denkenden Theil des gemeinen Wesens stören. Denn ich sehe keinen andern Bewegungsgrund hiezu, als daß sie ihre Existenz weit und breit um sich kund machen wollen. | |||||||
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