Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 167

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 in allen Völkern Gelehrte gebe, die der hebräischen Sprache (soviel es in      
  02 einer solchen möglich ist, von der man nur ein einziges Buch hat) kundig      
  03 sind, und es soll doch nicht bloß eine Angelegenheit der historischen Wissenschaft      
  04 überhaupt, sondern eine, woran die Seligkeit der Menschen hängt,      
  05 sein, daß es Männer giebt, welche derselben genugsam kundig sind, um      
  06 der Welt die wahre Religion zu sichern.      
           
  07 Die christliche Religion hat zwar so fern ein ähnliches Schicksal,      
  08 daß, obwohl die heiligen Begebenheiten derselben selbst unter den Augen      
  09 eines gelehrten Volks öffentlich vorgefallen sind, dennoch ihre Geschichte      
  10 sich mehr als ein Menschenalter verspätet hat, ehe sie in das gelehrte      
  11 Publicum desselben eingetreten ist, mithin die Authenticität derselben der      
  12 Bestätigung durch Zeitgenossen entbehren muß. Sie hat aber den großen      
  13 Vorzug vor dem Judenthum, daß sie aus dem Munde des ersten      
  14 Lehrers als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen,      
  15 vorgestellt wird und, auf solche Art mit der Vernunft in die      
  16 engste Verbindung tretend, durch sie von selbst auch ohne historische Gelehrsamkeit      
  17 auf alle Zeiten und Völker mit der größten Sicherheit verbreitet      
  18 werden konnte. Aber die ersten Stifter der Gemeinden fanden      
  19 es doch nöthig, die Geschichte des Judenthums damit zu verflechten, welches      
  20 nach ihrer damaligen Lage, aber vielleicht auch nur für dieselbe klüglich      
  21 gehandelt war und so in ihrem heiligen Nachlaß mit an uns gekommen      
  22 ist. Die Stifter der Kirche aber nahmen diese episodischen Anpreisungsmittel      
  23 unter die wesentlichen Artikel des Glaubens auf und vermehrten sie      
  24 entweder mit Tradition, oder Auslegungen, die von Concilien gesetzliche      
  25 Kraft erhielten, oder durch Gelehrsamkeit beurkundet wurden, von welcher      
  26 letztern, oder ihrem Antipoden, dem innern Licht, welches sich jeder Laie      
  27 auch anmaßen kann, noch nicht abzusehen ist, wie viel Veränderungen dadurch      
  28 dem Glauben noch bevorstehen; welches nicht zu vermeiden ist, so      
  29 lange wir die Religion nicht in uns, sondern außer uns suchen.      
           
  30

Zweiter Theil.

     
  31

Vom Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion.

     
           
  32 Die wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche      
  33 praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt      
  34 werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empirisch)      
           
     

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