Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 159 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Man kann nach dieser Beschreibung die Person nicht verfehlen, die | ||||||
02 | zwar nicht als Stifter der von allen Satzungen reinen in aller Menschen | ||||||
03 | Herz geschriebenen Religion (denn die ist nicht vom willkürlichen Ursprunge), | ||||||
04 | aber doch der ersten wahren Kirche verehrt werden kann. | ||||||
05 | Zur Beglaubigung dieser seiner Würde als göttlicher Sendung wollen wir | ||||||
06 | einige seiner Lehren als zweifelsfreie Urkunden einer Religion überhaupt | ||||||
07 | anführen, es mag mit der Geschichte stehen, wie es wolle (denn in der Idee | ||||||
08 | selbst liegt schon der hinreichende Grund zur Annahme), und die freilich | ||||||
09 | keine andere als reine Vernunftlehren werden sein können; denn diese sind | ||||||
10 | es allein, die sich selbst beweisen, und auf denen also die Beglaubigung | ||||||
11 | der andern vorzüglich beruhen muß. | ||||||
12 | Zuerst will er, daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder | ||||||
13 | statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung | ||||||
14 | den Menschen Gott wohlgefällig machen könne (Matth. V, | ||||||
15 | 20 - 48); daß Sünde in Gedanken vor Gott der That gleich geachtet werde | ||||||
16 | (v. 28) und überhaupt Heiligkeit das Ziel sei, wohin er streben soll | ||||||
17 | (v. 48); daß z. B. im Herzen hassen so viel sei als tödten (v. 22); daß | ||||||
18 | ein dem Nächsten zugefügtes Unrecht nur durch Genugthuung an ihm | ||||||
19 | selbst, nicht durch gottesdienstliche Handlungen könne vergütet werden | ||||||
20 | (v. 24), und im Punkte der Wahrhaftigkeit das bürgerliche Erpressungsmittel*), | ||||||
21 | der Eid, der Achtung für die Wahrheit selbst Abbruch thue | ||||||
*) Es ist nicht wohl einzusehen, warum dieses klare Verbot wider das auf bloßen Aberglauben, nicht auf Gewissenhaftigkeit gegründete Zwangsmittel zum Bekenntnisse vor einem bürgerlichen Gerichtshofe von Religionslehrern für so unbedeutend gehalten wird. Denn daß es Aberglauben sei, auf dessen Wirkung man hier am meisten rechnet, ist daran zu erkennen: daß von einem Menschen, dem man nicht zutrauet, er werde in einer feierlichen Aussage, auf deren Wahrheit die Entscheidung des Rechts der Menschen (des Heiligen, was in der Welt ist) beruht, die Wahrheit sagen, doch geglaubt wird, er werde durch eine Formel dazu bewogen werden, die über jene Aussage nichts weiter enthält, als daß er die göttlichen Strafen (denen er ohnedem wegen einer solchen Lüge nicht entgehen kann) über sich aufruft, gleich als ob es auf ihn ankomme, vor diesem höchsten Gericht Rechenschaft zu geben oder nicht. - In der angeführten Schriftstelle wird diese Art der Betheurung als eine ungereimte Vermessenheit vorgestellt, Dinge gleichsam durch Zauberworte wirklich zu machen, die doch nicht in unserer Gewalt sind. - Aber man sieht wohl, daß der weise Lehrer, der da sagt, daß, was über das Ja, Ja! Nein, Nein! Als Betheurung der Wahrheit geht, vom Übel sei, die böse Folge vor Augen gehabt habe, welche die Eide nach sich ziehen: daß nämlich die ihnen beigelegte größere Wichtigkeit die gemeine Lüge beinahe erlaubt macht. | |||||||
[ Seite 158 ] [ Seite 160 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||