Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 132 |
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01 | - Die in Dingen, welche ihrer Natur nach moralisch und seelenbessernd | ||||||
02 | sein sollen, sich von der Last eines der Willkür der Ausleger beständig | ||||||
03 | ausgesetzten Glaubens loswindende Vernunft hat in allen Ländern | ||||||
04 | unsers Welttheils unter wahren Religionsverehrern allgemein (wenn gleich | ||||||
05 | nicht allenthalben öffentlich) erstlich den Grundsatz der billigen Bescheidenheit | ||||||
06 | in Aussprüchen über alles, was Offenbarung heißt, angenommen: | ||||||
07 | daß, da niemand einer Schrift, die ihrem praktischen Inhalte | ||||||
08 | nach lauter Göttliches enthält, nicht die Möglichkeit abstreiten kann, sie | ||||||
09 | könne (nämlich in Ansehung dessen, was darin historisch ist) auch wohl | ||||||
10 | wirklich als göttliche Offenbarung angesehen werden, imgleichen die Verbindung | ||||||
11 | der Menschen zu einer Religion nicht füglich ohne ein heiliges | ||||||
12 | Buch und einen auf dasselbe gegründeten Kirchenglauben zu Stande gebracht | ||||||
13 | und beharrlich gemacht werden kann; da auch, wie der gegenwärtige | ||||||
14 | Zustand menschlicher Einsicht beschaffen ist, wohl schwerlich jemand eine | ||||||
15 | neue Offenbarung, durch neue Wunder eingeführt, erwarten wird, - es | ||||||
16 | das Vernünftigste und Billigste sei, das Buch, was einmal da ist, fernerhin | ||||||
17 | zur Grundlage des Kirchenunterrichts zu brauchen und seinen Werth | ||||||
18 | nicht durch unnütze oder muthwillige Angriffe zu schwächen, dabei aber | ||||||
19 | auch keinem Menschen den Glauben daran als zur Seligkeit erforderlich | ||||||
20 | aufzudringen. Der zweite Grundsatz ist: daß, da die heilige Geschichte, | ||||||
21 | die bloß zum Behuf des Kirchenglaubens angelegt ist, für sich allein auf | ||||||
22 | die Annehmung moralischer Maximen schlechterdings keinen Einfluß | ||||||
23 | haben kann und soll, sondern diesem nur zur lebendigen Darstellung ihres | ||||||
24 | wahren Objects (der zur Heiligkeit hinstrebenden Tugend) gegeben ist, | ||||||
25 | sie jederzeit als auf das Moralische abzweckend gelehrt und erklärt werden, | ||||||
26 | hierbei aber auch sorgfältig und (weil vornehmlich der gemeine Mensch | ||||||
27 | einen beständigen Hang in sich hat, zum passiven*) Glauben überzuschreiten) | ||||||
*) Eine von den Ursachen dieses Hanges liegt in dem Sicherheitsprincip: daß die Fehler einer Religion, in der ich geboren und erzogen bin, deren Belehrung nicht von meiner Wahl abhing, und in der ich durch eigenes Vernünfteln nichts verändert habe, nicht auf meine, sondern meiner Erzieher oder öffentlich dazu gesetzter Lehrer ihre Rechnung komme: ein Grund mit, warum man der öffentlichen Religionsveränderung eines Menschen nicht leicht Beifall giebt, wozu dann freilich noch ein anderer (tiefer liegender) Grund kommt, daß bei der Ungewißheit, die ein jeder in sich fühlt, welcher Glaube (unter den historischen) der rechte sei, indessen daß der moralische allerwärts der nämliche ist, man es sehr unnöthig findet, hierüber Aufsehen zu erregen. | |||||||
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