Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 131

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Thron errichtet hat, von einem angemaßten Statthalter Gottes      
  02 die bürgerliche Ordnung sammt den Wissenschaften (welche jene erhalten)      
  03 zerrüttet und kraftlos gemacht wurden; wie beide christliche Welttheile      
  04 gleich den Gewächsen und Thieren, die, durch eine Krankheit ihrer Auflösung      
  05 nahe, zerstörende Insekten herbeilocken, diese zu vollenden, von Barbaren      
  06 befallen wurden; wie in dem letztern jenes geistliche Oberhaupt      
  07 Könige wie Kinder durch die Zauberruthe seines angedrohten Bannes beherrschte      
  08 und züchtigte, sie zu einen andern Welttheil entvölkernden, auswärtigen      
  09 Kriegen (den Kreuzzügen), zur Befehdung untereinander, zur      
  10 Empörung der Unterthanen gegen ihre Obrigkeit und zum blutdürstigen      
  11 Haß gegen ihre anders denkenden Mitgenossen eines und desselben allgemeinen      
  12 so genannten Christenthums aufreizte; wie zu diesem Unfrieden,      
  13 der auch jetzt nur noch durch das politische Interesse von gewaltthätigen      
  14 Ausbrüchen abgehalten wird, die Wurzel in dem Grundsatze eines despotisch      
  15 gebietenden Kirchenglaubens verborgen liegt und jenen Auftritten      
  16 ähnliche noch immer besorgen läßt: - diese Geschichte des Christenthums      
  17 (welche, sofern es auf einem Geschichtsglauben errichtet werden sollte, auch      
  18 nicht anders ausfallen konnte), wenn man sie als ein Gemälde unter einem      
  19 Blick faßt, könnte wohl den Ausruf rechtfertigen: tantum religio potuit      
  20 suadere malorum ! wenn nicht aus der Stiftung desselben immer noch      
  21 deutlich genug hervorleuchtete, daß seine wahre erste Absicht keine andre      
  22 als die gewesen sei, einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine      
  23 streitende Meinungen geben kann, einzuführen, alles jenes Gewühl aber,      
  24 wodurch das menschliche Geschlecht zerrüttet ward und noch entzweiet wird,      
  25 bloß davon herrühre, daß durch einen schlimmen Hang der menschlichen      
  26 Natur, was beim Anfange zur Introduction des letztern dienen sollte,      
  27 nämlich die an den alten Geschichtsglauben gewöhnte Nation durch ihre      
  28 eigene Vorurtheile für die neue zu gewinnen, in der Folge zum Fundament      
  29 einer allgemeinen Weltreligion gemacht worden.      
           
  30 Fragt man nun: welche Zeit der ganzen bisher bekannten Kirchengeschichte      
  31 die beste sei, so trage ich kein Bedenken, zu sagen: es ist die      
  32 jetzige, und zwar so, daß man den Keim des wahren Religionsglaubens,      
  33 so wie er jetzt in der Christenheit zwar nur von einigen, aber doch öffentlich      
  34 gelegt worden, nur ungehindert sich mehr und mehr darf entwickeln      
  35 lassen, um davon eine continuirliche Annäherung zu derjenigen alle Menschen      
  36 auf immer vereinigenden Kirche zu erwarten, die die sichtbare Vorstellung      
  37 (das Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht.      
           
     

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