Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 133

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 wiederholentlich eingeschärft werden müsse, daß die wahre Religion      
  02 nicht im Wissen oder Bekennen dessen, was Gott zu unserer Seligwerdung      
  03 thue oder gethan habe, sondern in dem, was wir thun müssen,      
  04 um dessen würdig zu werden, zu setzen sei, welches niemals etwas anders      
  05 sein kann, als was für sich selbst einen unbezweifelten unbedingten      
  06 Werth hat, mithin uns allein Gott wohlgefällig machen und von dessen      
  07 Nothwendigkeit zugleich jeder Mensch ohne alle Schriftgelehrsamkeit völlig      
  08 gewiß werden kann. - Diese Grundsätze nun nicht zu hindern, damit sie      
  09 öffentlich werden, ist Regentenpflicht; dagegen sehr viel dabei gewagt und      
  10 auf eigene Verantwortung unternommen wird, hiebei in den Gang der      
  11 göttlichen Vorsehung einzugreifen und gewissen historischen Kirchenlehren      
  12 zu gefallen, die doch höchstens nur eine durch Gelehrte auszumachende      
  13 Wahrscheinlichkeit für sich haben, die Gewissenhaftigkeit der Unterthanen      
  14 durch Anbietung oder Versagung gewisser bürgerlichen, sonst jedem offen      
  15 stehenden Vortheile in Versuchung zu bringen *), welches, den Abbruch,      
           
    *) Wenn eine Regierung es nicht für Gewissenszwang gehalten wissen will, daß sie nur verbietet, öffentlich seine Religionsmeinung zu sagen, indessen sie doch keinen hinderte, bei sich im geheim zu denken, was er gut findet, so spaßt man gemeiniglich darüber und sagt: daß dieses gar keine von ihr vergönnte Freiheit sei, weil sie es ohnedem nicht verhindern kann. Allein was die weltliche oberste Macht nicht kann, das kann doch die geistliche: nämlich selbst das Denken zu verbieten und wirklich auch zu hindern; sogar daß sie einen solchen Zwang, nämlich das Verbot anders, als was sie vorschreibt, auch nur zu denken, selbst ihren mächtigen Obern aufzuerlegen vermag. - Denn wegen des Hanges der Menschen zum gottesdienstlichen Frohnglauben, dem sie nicht allein vor dem moralischen (durch Beobachtung seiner Pflichten überhaupt Gott zu dienen) die größte, sondern auch die einzige, allen übrigen Mangel vergütende Wichtigkeit zu geben von selbst geneigt sind, ist es den Bewahrern der Rechtgläubigkeit als Seelenhirten jederzeit leicht, ihrer Heerde ein frommes Schrecken vor der mindesten Abweichung von gewissen auf Geschichte beruhenden Glaubenssätzen und selbst vor aller Untersuchung dermaßen einzujagen, daß sie sich nicht getrauen, auch nur in Gedanken einen Zweifel wider die ihnen aufgedrungenen Sätze in sich aufsteigen zu lassen: weil dieses so viel sei, als dem bösen Geiste ein Ohr leihen. Es ist wahr, daß um von diesem Zwange los zu werden, man nur wollen darf (welches bei jenem landesherrlichen in Ansehung der öffentlichen Bekenntnisse nicht der Fall ist); aber dieses Wollen ist eben dasjenige, dem innerlich ein Riegel vorgeschoben wird. Doch ist dieser eigentliche Gewissenszwang zwar schlimm genug (weil er zur innern Heuchelei verleitet), aber noch nicht so schlimm, als die Hemmung der äußern Glaubensfreiheit, weil jener durch den Fortschritt der moralischen Einsicht und das Bewußtsein seiner Freiheit, aus welcher die wahre Achtung für Pflicht allein entspringen kann, allmählich [Seitenumbruch] von selbst schwinden muß, dieser äußere hingegen alle freiwillige Fortschritte in der ethischen Gemeinschaft der Gläubigen, die das Wesen der wahren Kirche ausmacht, verhindert und die Form derselben ganz politischen Verordnungen unterwirft.      
           
     

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