Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 127 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | ausgemacht habe, daß es vielmehr das ganze menschliche Geschlecht von | ||||||
02 | seiner Gemeinschaft ausschloß, als ein besonders vom Jehovah für sich | ||||||
03 | auserwähltes Volk, welches alle andere Völker anfeindete und dafür von | ||||||
04 | jedem angefeindet wurde. Hiebei ist es auch nicht so hoch anzuschlagen, | ||||||
05 | daß dieses Volk sich einen einigen, durch kein sichtbares Bild vorzustellenden | ||||||
06 | Gott zum allgemeinen Weltherrscher setzte. Denn man findet bei den | ||||||
07 | meisten andern Völkern, daß ihre Glaubenslehre darauf gleichfalls hinausging | ||||||
08 | und sich nur durch die Verehrung gewisser jenem untergeordneten | ||||||
09 | mächtigen Untergötter des Polytheismus verdächtig machte. Denn ein Gott, | ||||||
10 | der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische | ||||||
11 | Gesinnung erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische | ||||||
12 | Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nöthig haben. Diese | ||||||
13 | würde noch eher bei einem Glauben an viele solche mächtige unsichtbare | ||||||
14 | Wesen statt finden, wenn ein Volk sich diese etwa so dächte, daß sie bei | ||||||
15 | der Verschiedenheit ihrer Departements doch alle darin übereinkämen, daß | ||||||
16 | sie ihres Wohlgefallens nur den würdigten, der mit ganzem Herzen der | ||||||
17 | Tugend anhinge, als wenn der Glaube nur einem einzigen Wesen gewidmet | ||||||
18 | ist, das aber aus einem mechanischen Cultus das Hauptwerk macht. | ||||||
19 | Wir können also die allgemeine Kirchengeschichte, sofern sie ein System | ||||||
20 | ausmachen soll, nicht anders als vom Ursprunge des Christenthums anfangen, | ||||||
21 | das, als eine völlige Verlassung des Judenthums, worin es entsprang, | ||||||
22 | auf einem ganz neuen Princip gegründet, eine gänzliche Revolution | ||||||
23 | in Glaubenslehren bewirkte. Die Mühe, welche sich die Lehrer des | ||||||
24 | erstern geben, oder gleich zu Anfange gegeben haben mögen, aus beiden | ||||||
25 | einen zusammenhängenden Leitfaden zu knüpfen, indem sie den neuen | ||||||
26 | Glauben nur für eine Fortsetzung des alten, der alle Ereignisse desselben | ||||||
27 | in Vorbildern enthalten habe, gehalten wissen wollen, zeigt gar zu deutlich, | ||||||
28 | daß es ihnen hiebei nur um die schicklichsten Mittel zu thun sei oder | ||||||
29 | war, eine reine moralische Religion statt eines alten Cultus, woran das | ||||||
30 | Volk gar zu stark gewöhnt war, zu introduciren, ohne doch wider seine | ||||||
31 | Vorurtheile gerade zu verstoßen. Schon die nachfolgende Abschaffung des | ||||||
32 | körperlichen Abzeichens, welches jenes Volk von andern gänzlich abzusondern | ||||||
33 | diente, läßt urtheilen, daß der neue, nicht an die Statuten des alten, | ||||||
34 | ja an keine Statuten überhaupt gebundene Glaube eine für die Welt, nicht | ||||||
35 | für ein einziges Volk gültige Religion habe enthalten sollen. | ||||||
36 | Aus dem Judenthum also, - aber aus dem nicht mehr altväterlichen | ||||||
37 | und unvermengten, bloß auf eigene politische Verfassung (die auch schon | ||||||
[ Seite 126 ] [ Seite 128 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |