Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 114

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 werden verdient. Aber so wenig wie aus irgend einem Gefühl Erkenntniß      
  02 der Gesetze, und daß diese moralisch sind, eben so wenig und noch weniger      
  03 kann durch ein Gefühl das sichere Merkmal eines unmittelbaren göttlichen      
  04 Einflusses gefolgert und ausgemittelt werden: weil zu derselben Wirkung      
  05 mehr als eine Ursache statt finden kann, in diesem Falle aber die bloße      
  06 Moralität des Gesetzes (und der Lehre), durch die Vernunft erkannt, die      
  07 Ursache derselben ist, und selbst in dem Falle der bloßen Möglichkeit dieses      
  08 Ursprungs es Pflicht ist, ihm die letztere Deutung zu geben, wenn man      
  09 nicht aller Schwärmerei Thür und Thor öffnen und nicht selbst das unzweideutige      
  10 moralische Gefühl durch die Verwandtschaft mit jedem andern      
  11 phantastischen um seine Würde bringen will. - Gefühl, wenn das Gesetz,      
  12 woraus oder auch wornach es erfolgt, vorher bekannt ist, hat jeder nur für      
  13 sich und kann es andern nicht zumuthen, also auch nicht als einen Probirstein      
  14 der Ächtheit einer Offenbarung anpreisen, denn es lehrt schlechterdings      
  15 nichts, sondern enthält nur die Art, wie das Subject in Ansehung      
  16 seiner Lust oder Unlust afficirt wird, worauf gar keine Erkenntniß gegründet      
  17 werden kann.      
           
  18 Es giebt also keine Norm des Kirchenglaubens als die Schrift und      
  19 keinen andern Ausleger desselben, als reine Vernunftreligion und      
  20 Schriftgelehrsamkeit (welche das Historische derselben angeht), von      
  21 welchen der erstere allein authentisch und für alle Welt gültig, der zweite      
  22 aber nur doctrinal ist, um den Kirchenglauben für ein gewisses Volk zu      
  23 einer gewissen Zeit in ein bestimmtes, sich beständig erhaltendes System      
  24 zu verwandeln. Was aber diesen betrifft, so ist es nicht zu ändern, daß      
  25 der historische Glaube nicht endlich ein bloßer Glaube an Schriftgelehrte      
  26 und ihre Einsicht werde: welches freilich der menschlichen Natur nicht sonderlich      
  27 zur Ehre gereicht, aber doch durch die öffentliche Denkfreiheit wiederum      
  28 gut gemacht wird, dazu diese deshalb um destomehr berechtigt ist,      
  29 weil nur dadurch, daß Gelehrte ihre Auslegungen jedermanns Prüfung      
  30 aussetzen, selbst aber auch zugleich für bessere Einsicht immer offen und      
  31 empfänglich bleiben, sie auf das Zutrauen des gemeinen Wesens zu ihren      
  32 Entscheidungen rechnen können.      
           
           
     

[ Seite 113 ] [ Seite 115 ] [ Inhaltsverzeichnis ]