Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 113 |
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01 | Stärkung ihres moralischen Glaubens zu finden meinen und sie | ||||||
02 | daher gerne annehmen, daran nicht zu hindern. - Aber nicht bloß die Beurkundung, | ||||||
03 | sondern auch die Auslegung der heiligen Schrift bedarf | ||||||
04 | aus derselben Ursache Gelehrsamkeit. Denn wie will der Ungelehrte, der | ||||||
05 | sie nur in Übersetzungen lesen kann, von dem Sinne derselben gewiß sein? | ||||||
06 | daher der Ausleger, welcher auch die Grundsprache inne hat, doch noch | ||||||
07 | ausgebreitete historische Kenntniß und Kritik besitzen muß, um aus dem | ||||||
08 | Zustande, den Sitten und den Meinungen (dem Volksglauben) der damaligen | ||||||
09 | Zeit die Mittel zu nehmen, wodurch dem kirchlichen gemeinen Wesen | ||||||
10 | das Verständnis geöffnet werden kann. | ||||||
11 | Vernunftreligion und Schriftgelehrsamkeit sind also die eigentlichen | ||||||
12 | berufenen Ausleger und Depositäre einer heiligen Urkunde. Es fällt in | ||||||
13 | die Augen, daß diese an öffentlichem Gebrauche ihrer Einsichten und Entdeckungen | ||||||
14 | in diesem Felde vom weltlichen Arm schlechterdings nicht können | ||||||
15 | gehindert und an gewisse Glaubenssätze gebunden werden: weil sonst Laien | ||||||
16 | die Kleriker nöthigen würden, in ihre Meinung einzutreten, die jene doch | ||||||
17 | nur von dieser ihrer Belehrung her haben. Wenn der Staat nur dafür | ||||||
18 | sorgt, daß es nicht an Gelehrten und ihrer Moralität nach im guten Rufe | ||||||
19 | stehenden Männern fehle, welche das Ganze des Kirchenwesens verwalten, | ||||||
20 | deren Gewissen er diese Besorgung anvertraut, so hat er alles gethan, was | ||||||
21 | seine Pflicht und Befugnis mit sich bringen. Diese selbst aber in die | ||||||
22 | Schule zu führen und sich mit ihren Streitigkeiten zu befassen (die, wenn | ||||||
23 | sie nur nicht von Kanzeln geführt werden, das Kirchenpublicum im völligen | ||||||
24 | Frieden lassen), ist eine Zumuthung, die das Publicum an den | ||||||
25 | Gesetzgeber nicht ohne Unbescheidenheit thun kann, weil sie unter seiner | ||||||
26 | Würde ist. | ||||||
27 | Aber es tritt noch ein dritter Prätendent zum Amte eines Auslegers | ||||||
28 | auf, welcher weder Vernunft, noch Gelehrsamkeit, sondern nur ein inneres | ||||||
29 | Gefühl bedarf, um den wahren Sinn der Schrift und zugleich ihren göttlichen | ||||||
30 | Ursprung zu erkennen. Nun kann man freilich nicht in Abrede | ||||||
31 | ziehen, daß, "wer ihrer Lehre folgt, und das thut, was sie vorschreibt, allerdings | ||||||
32 | finden wird, daß sie von Gott sei", und daß selbst der Antrieb zu | ||||||
33 | guten Handlungen und zur Rechtschaffenheit im Lebenswandel, den der | ||||||
34 | Mensch, der sie liest oder ihren Vortrag hört, fühlen muß, ihn von der | ||||||
35 | Göttlichkeit derselben überführen müsse: weil er nichts anders, als die Wirkung | ||||||
36 | von dem den Menschen mit inniglicher Achtung erfüllenden moralischen | ||||||
37 | Gesetze ist, welches darum auch als göttliches Gebot angesehen zu | ||||||
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