Kant: Briefwechsel, Brief 805, An Iohann Heinrich Tieftrunk. |
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An Iohann Heinrich Tieftrunk. | |||||||
5. April 1798. | |||||||
Ihren Brief, werthester Freund! habe mit Vergnügen gelesen: | |||||||
vornehmlich daß ich Sie so entschlossen finde die Sache der Critik in | |||||||
ihrer Lauterkeit zu erhalten, sie aufzuhellen und mannhaft zu verfechten, | |||||||
welches, wie der Erfolg es zeigen wird, Sie niemals zu bereuen Ursach | |||||||
haben sollen. - Eine Vorrede zu meinen kleinen Schriften, welche | |||||||
nicht bloß meine Genehmigung ihrer Herausgabe, sondern auch die | |||||||
etwanige von Ihnen gemachte Anmerkungen beträfe, würde ich gern | |||||||
hinzufügen, wenn es thunlich wäre daß Sie mir das Werk vor Abfassung, | |||||||
oder vielmehr Publikation der erstereren, zuschickten, um der | |||||||
Rengerschen Buchhandlung auch hiermit zu Gefallen zu sein. - Ietzt | |||||||
noch ein Anliegen meinerseits. | |||||||
Ich hatte vor einigen Iahren ein Werk vor unter dem Titel: "Der | |||||||
Streit der Facultäten von I. Kant" aber sie fiel unter Hermes und | |||||||
Hillmers Censur durch u. mußte liegen bleiben. - Nun ist ihr zwar | |||||||
jetzt der Ausflug offen; allein es hat sich ein anderer Mißfall im Gebähren | |||||||
meines Genius zugetragen daß nämlich eine neuere Schrift | |||||||
unter dem Titel "Erneuerte Frage, ob das menschliche Geschlecht im | |||||||
beständigen Fortschreiten zum Bessern sey" von mir dem Bibliothekar | |||||||
Biester für seine Berl. Blätter zugeschickt, ich weis nicht wie, dem | |||||||
Stadtpräsidenten Eisenberg zur Censur eingereicht wurde u. zwar den | |||||||
23ten Octobr. 1797, also noch bei Lebzeiten des vorigen Königs, u. | |||||||
ihm das imprimatur abgeschlagen wurde: ein Vorfall von dem mir es | |||||||
unbegreiflich bleibt, wie es möglich war daß ihn mir Hr. Biester allererst | |||||||
den 28ten Febr. 1798 meldete. - Da nun Iedermann bekannt ist, | |||||||
wie sorgfältig ich mich mit meiner Schriftstellerei in den Schranken | |||||||
der Gesetze halte: ich aber auch nicht mühsame Arbeit um Nichts u. | |||||||
wieder nichts weggeworfen haben mag, so habe ich, nach geschehener | |||||||
Erkundigung bei einem rechtskundigen Manne, beschlossen dieses Stück, | |||||||
sammt der auf denselben gezeichneten Eisenbergschen Censur Verweigerung, | |||||||
durch meinen Verleger Nicolovius nach Halle zu schicken u. | |||||||
durch Ihre gütige Mühwaltung daselbst die Censur zu suchen; welche, | |||||||
wie ich festiglich glaube, mir dort nicht fehlschlagen wird, u. werde es | |||||||
so einzuleiten suchen, daß beide Stücke, als zu einem Ganzen gehörend | |||||||
Ein Buch ausmachen sollen; wo Sie dann, wenn es Ihnen beliebt das | |||||||
letztere auch abgesondert in der Sammlung meiner kleinen Schriften | |||||||
mit hinein tragen können. | |||||||
Was halten Sie von Herrn Fichte allgemeine Wissenschaftslehre? | |||||||
einem Buche, welches er mir vorlängst zugeschickt hat, dessen Durchlesung | |||||||
ich aber, weil ich es weitläuftig und meine Arbeit zu sehr unterbrechend | |||||||
fand, zur Seite legte u. jetzt nur aus der Recension in der | |||||||
A. L. Z. kenne? Für jetzt habe ich nicht die Muße es zur Hand zu | |||||||
nehmen; aber die Recension für Fichte (welche mit vieler Vorliebe des | |||||||
Recensenten abgefaßt ist) sieht mir wie eine Art von Gespenst aus, | |||||||
was, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, | |||||||
sondern immer nur sich selbst u. zwar hievon auch nur die Hand die | |||||||
darnach hascht vor sich findet. - Das bloße Selbstbewußtsein u. zwar | |||||||
nur der Gedankenform nach, ohne Stoff, folglich ohne daß die Reflexion | |||||||
darüber etwas vor sich hat, worauf es angewandt werden könne u. | |||||||
selbst über die Logik hinausgeht, macht einen wunderlichen Eindruck | |||||||
auf den Leser. Schon der Titel (Wissenschaftslehre) erregt, weil jede | |||||||
systematisch geführte Lehre Wissenschaft ist, wenig Erwartung für den | |||||||
Gewinn weil sie eine Wissenschaftswissenschaft u. so ins unendliche | |||||||
andeuten würde. - Ihr Urtheil darüber, u. auch welche Wirkung es | |||||||
auf Andere Ihres Orts hat, möchte ich doch gern vernehmen. | |||||||
Leben Sie wohl, werthester Freund. | |||||||
I Kant. | |||||||
den 5ten April 1798 | |||||||
Mit der fahrenden Post. | |||||||
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