Kant: Briefwechsel, Öffentliche Erklärung 6, Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre.      
           
  7. Aug. 1799.      
           
  Auf die feierliche, im Namen des Publicums an mich ergangene      
  Aufforderung des Recensenten von Buhle's Entwurf der Transscendental=Philosophie      
  in Nro. 8. der Erlangischen Litteraturzeitung vom      
  11 ten Ianuar 1799. erkläre ich hiermit: daß ich Fichte's Wissenschaftslehre      
  für ein gänzlich unhaltbares System halte. Denn reine      
  Wissenschaftslehre ist nichts mehr oder weniger als bloße Logik, welche      
  mit ihren Principien sich nicht zum Materialen des Erkenntnisses versteigt,      
  sondern vom Inhalte derselben als reine Logik abstrahirt, aus      
  welcher ein reales Object herauszuklauben vergebliche und daher auch      
  nie versuchte Arbeit ist, sondern wo, wenn es die Transscendental=Philosophie      
  gilt, allererst zur Metaphysik übergeschritten werden muß. Was      
  aber Metaphysik nach Fichte's Principien betrifft: so bin ich so wenig      
  gestimmt, an derselben Theil zu nehmen, daß ich in einem Antwortsschreiben      
  ihm, statt der fruchtlosen Spitzfindigkeiten ( apices ) seine gute      
  Darstellungsgabe zu cultiviren rieth, wie sie sich in der Crit. d. r. V.      
  mit Nutzen anwenden läßt, aber von ihm mit der Erklärung "er werde      
  doch das Scholastische nicht aus den Augen setzen," höflich abgewiesen      
  wurde. Also ist die Frage: ob ich den Geist der Fichteschen Philosophie      
  für ächten Criticismus halte, durch ihn selbst beantwortet, ohne      
  daß ich nöthig habe, über ihren Werth oder Unwerth abzusprechen; da      
  hier nicht von einem beurtheilten Object, sondern dem beurtheilenden      
  Subject die Rede ist; wo es genug ist, mich von allem Antheil an      
  jener Philosophie loszusagen.      
           
  Hierbey muß ich noch bemerken, daß die Anmaßung, mir die Absicht      
           
  unterzuschieben: ich habe bloß eine Proprädevtik zur Transscendental=Philosophie,      
  nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern      
  wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in      
  Gedanken kommen können, da ich selbst das vollendete Ganze der reinen      
  Philosophie in der Crit. der r. V. für das beste Merkmal der Wahrheit      
  derselben gepriesen habe. - Da endlich Recensent behauptet, da      
  die Critik in Ansehung dessen, was sie von der Sinnlichkeit wörtlich      
  lehrt, nicht buchstäblich zu nehmen sey, sondern ein jeder, der die      
  Critik verstehen will, sich allererst des gehörigen (Beckischen oder Fichteschen)      
  Standpunktes bemächtigen muß, weil der kantische Buchstabe      
  eben so gut wie der aristotelische den Geist tödte; so erkläre ich      
  hiermit nochmals, daß die Critik allerdings nach dem Buchstaben zu      
  verstehen, und bloß aus dem Standpunkte des gemeinen nur zu solchen      
  abstracten Untersuchungen hinlänglich cultivirten Verstandes zu betrachten      
  ist.      
           
  Ein italienisches Sprüchwort sagt: "Gott bewahre uns nur vor      
  unsern Freunden, vor unsern Feinden wollen wir uns wohl selbst in      
  Acht nehmen." Es gibt nemlich gutmüthige, gegen uns wohlgesinnte      
  aber dabey in der Wahl der Mittel unsere Absichten zu begünstigen,      
  sich verkehrt benehmende (tölpische), aber auch bisweilen betrügerische,      
  hinterlistige, auf unser Verderben sinnende und dabey doch die Sprache      
  des Wohlwollens führende ( aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum      
  gerere ) sogenannte Freunde, vor denen und ihren ausgelegten      
  Schlingen man nicht genug auf seiner Huth seyn kann. Aber demungeachtet      
  muß die kritische Philosophie sich durch ihre unaufhaltbare Tendenz      
  zu Befriedigung der Vernunft in theoretischer sowohl als moralisch      
  praktischer Absicht überzeugt fühlen, daß ihr kein Wechsel der Meynungen,      
  keine Nachbesserungen oder ein anders geformtes Lehrgebäude bevorstehe,      
  sondern das System der Critik auf einer völlig gesicherten      
  Grundlage ruhend, auf immer befestigt, und auch für alle künftige Zeitalter      
  zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich sey.      
           
  d. 7 ten August 1799.      
           
  Immanuel Kant.      
           
           
           
           
     

[ abgedruckt in : AA XII, Seite 370 ] [ Öffentl. Erkl. 5 ] [ Öffentl. Erkl. 7 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ]