Kant: Briefwechsel, Öffentliche Erklärung 5, Erklärung in der litterarischen Fehde mit Schlettwein. |
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Erklärung in der litterarischen Fehde mit Schlettwein. | |||||||
1. Iohann August Schlettwein an Kant. | |||||||
2. Kant's Erklärung. | |||||||
3. Schlettweins zweiter Brief an Kant. | |||||||
Von Iohann August Schlettwein. | |||||||
Eine litterarische Herausforderung. | |||||||
Greifswalde, d. 11. Mai 1797. | |||||||
Ich schreibe Ihnen, berühmter Mann! weil mich der feurigste Drang meines | |||||||
Herzens dazu auffordert. Ich habe Ihre Kritik der reinen Vernunft, und | |||||||
alle übrige größere und kleinere philosophische Werke die Sie der Welt seit der Erscheinung | |||||||
der ersteren geschenkt haben, mit der anhaltendsten Aufmerksamkeit gelesen, | |||||||
und zu wiederhohlten Malen gelesen, und über den ganzen Inhalt derselben ernstlich | |||||||
und tief nachgedacht. Ich bekenne Ihnen aber frei, mein Theurer! daß Sie | |||||||
dadurch noch zur Zeit weder meinen Geist noch mein Herz haben anziehen können, | |||||||
um in Ihrer Gesellschaft den Fußsteig den Sie betreten haben, nach Ihrem Wunsche | |||||||
zur Heeresstraße machen zu helfen. Ich will Ihnen mit redlicher Offenheit Alles | |||||||
darüber sagen, was der Mensch dem Menschen sagen, und der Mensch vom Menschen | |||||||
gern anhören soll, wenn Einer wie der Andere die Menschheit achtet, und wenn | |||||||
Einer gegen den Andern von wahrer Bruderliebe glühet. | |||||||
Erstlich sind Ihre Schriften allzuvoll von den stolzesten Anmaßungen einer | |||||||
Superiorität Ihrer Denkkraft über die Denkkräfte der größten Menschen aller Zeitalter; | |||||||
und oft machen Sie Sich schuldig der auffallendsten Ungerechtigkeiten und | |||||||
der unverzeihlichsten lieblosesten Geringschätzung und Verhöhnung würdiger Männer | |||||||
unserer Zeit. Sie werden, wenn Sie eine redliche ernstliche Prüfung Ihrer Selbst | |||||||
als wahrer Philosoph anstellen wollen, unmöglich läugnen können, daß eine unbegränzte | |||||||
Selbstsucht, ein fast unermeßliches Wohlgefallen an Ihrer persönlichen Eigenheit | |||||||
durchaus Ihre Feder geführt hat. Dies aber, mein lieber Kant! ist gerade | |||||||
der Charakter, der mein Herz in Absicht meiner Brüder welche ihn an sich tragen, | |||||||
tief betrübt, weil ich völlig überzeugt bin daß der unendliche Urheber aller unserer | |||||||
Talente und Fähigkeiten, von dessen Dasein ich die unwankelbarste Gewißheit habe, | |||||||
durch nichts mehr entehrt wird als durch solche eitle egoistische Gesinnungen seiner | |||||||
Menschen. Die wahre Weisheit erfordert nur reine Einfalt des Herzens, und | |||||||
siehet Stolz und Eitelkeit als ihre feindseligsten Widersacher. Zuverlässig verwickelt | |||||||
der Mensch, so groß auch die Kräfte seines Geistes immer sein mögen, sich | |||||||
in Grübeleien Grillen und Irrthümer, wenn er seine Werke mit solch' einem eitlen | |||||||
Stolze, mit solch, einer pralerischen Selbstgefälligkeit und mit solcher Arroganz zu | |||||||
treiben beginnt, wie Sie es mein armer bedaurenswürdiger Kant! wirklich gethan | |||||||
haben. | |||||||
Warum sagten Sie das was Sie für wahr und für wichtig hielten, nicht | |||||||
mit edler Simplizität, ohne so oft Sich Selbst zu erheben, und die Fähigkeiten und | |||||||
Bemühungen anderer Denker herunter zu setzen, und gleichsam ganz für Nichts zu | |||||||
erklären? Warum sprachen Sie - Wahrheit hat ja so etwas nicht nöthig - warum | |||||||
sprachen Sie so viel von Ihrer Selbstheit in dem dezisiven Tone eines Allwissenden, | |||||||
wenigstens alle Ihre Brüder weit übersehenden Diktators? Sie waren fähig | |||||||
eine Philosophie nach Ihrem eigenen Plane zu entwerfen, oder ein System der | |||||||
Philosophie als Ihr eigenes Fabrikat anzukündigen; Sie hatten auch ein Recht | |||||||
dazu. Aber Sie hatten nicht die Fähigkeit einer Infallibilität, auch nicht das Recht | |||||||
sich solche zuzueignen. - Nicht einmal das sollten Sie sich eingebildet haben, | |||||||
oder noch einbilden, mein lieber Kant! daß Ihre Fähigkeiten ein System der Philosophie | |||||||
auf Ihre eigene Art zu fabriziren, größer wäre als die Fähigkeiten aller | |||||||
Ihrer Vorgänger gewesen sind das Gleiche zu thun. Sie konnten also wohl Ihre | |||||||
kritische Philosophie als eine solche ankündigen, vor welcher noch kein philosophisches | |||||||
System auf diese Art wie das Ihrige, fabrizirt worden sei. Sie konnten | |||||||
auch laut sagen daß nach Ihrer Vorstellungsart, und nach dem ganzen Inbegrif | |||||||
des dermaligen Gebietes Ihrer Vorstellungen, alle vorherige Fabrikate eines | |||||||
philosophischen Systems nicht die erforderliche Vollkommenheit hätten. Allein Sie | |||||||
wußten doch nicht und wissen noch nicht gewiß, und dürfen es auch nicht mit Gewißheit | |||||||
sagen, daß Ihre Vorstellungsweise an Vollkommenheit die Vorstellungsweise | |||||||
aller derer übertreffe die philosophische Systeme vor Ihnen entworfen haben, | |||||||
und daß das Gebiet der Vorstellungen Ihrer Vorgänger kleiner gewesen sei als | |||||||
das dermalige der Ihrigen, und daß also Sie ein besseres und richtigeres | |||||||
philosophisches System fabrizirt haben müßten als Ihre Vorgänger. | |||||||
Dies war und bleibt also die unverzeihlichste Arroganz: daß Ihr Fabrikat | |||||||
der Philosophie - ich bediene mich dieser Worte Fabrikat und Fabriziren, | |||||||
die mir für das Feld der Wissenschaften sonst sehr mißfällig sind, bloß um Ihnen, | |||||||
der Sie diese Sprache zu Ihrer eigenen gemacht haben, recht verständlich zu sein | |||||||
- mit der dezisiven Behauptung angekündiget wurde, es habe vor demselben noch | |||||||
gar keine Philosophie gegeben. Die Vernunft läßt es nicht zu daß der welcher | |||||||
eine Wissenschaft, es sei Theologie, Iurisprudenz, Arzeneiwissenschaft, oder sonst | |||||||
eine, nach seinem eigenen Plan entwirft, und als sein eignes Fabrikat ankündigt, | |||||||
mit entscheidender Gewißheit sagen könne, es habe vor diesem seinen Fabrikat noch | |||||||
gar keine solche Wissenschaft, keine Theologie, keine Rechtswissenschaft, keine Arzeneiwissenschaft | |||||||
u.s.w. gegeben. Nur dies darf er der Vernunft zu Folge sagen, es | |||||||
sei vor ihm die Wissenschaft die er behandelt, noch nie nach einem solchen Plane | |||||||
als der seinige sei, bearbeitet und fabrizirt worden; ob aber sein Plan und seine | |||||||
Fabrikazionsweise besser sei als alle Plane und Fabrikazionsarten seiner Vorgänger, | |||||||
und ob er dadurch die Wissenschaft allererst zur wahren Wissenschaft erhoben habe: | |||||||
das habe er zwar gewünscht zu bewirken, allein er müsse und wolle es der strengen | |||||||
Prüfung heimgestellt sein lassen ob seine Vorstellungsweise die allgemein richtige | |||||||
für die Menschen sei, oder ob auch in ihr Mängel und Irrthümer sich finden lassen | |||||||
wie er in der Vorstellungsweise seiner Vorgänger nach seinem dermaligen Gedanken, | |||||||
kreise glaube gefunden zu haben. Ihr Stolz, mein Kant! übertrift in Wahrheit | |||||||
Alles was bisher Gelehrtenstolz hieß. | |||||||
Zweitens kann ich es nach meinem Gefühl schlechterdings nicht mit der | |||||||
wahren Rechtschaffenheit zusammen reimen, daß Sie mein Lieber! bei dem bis zum | |||||||
wirklichen Skandal ausgebrochenen und immer weiter um sich greifenden Streite | |||||||
der nach Ihnen sich so nennenden kritischen Philosophen über den Sinn und Geist | |||||||
Ihrer Schriften, nicht öffentlich hervortreten, und bestimmt heraussagen welcher von | |||||||
diesen Schriftstellern Ihren Sinn wirklich getroffen hat und welcher nicht. ob Reinhold, | |||||||
ob Fichte, ob Beck, oder wer sonst es ist. Ich halte es für die strengste | |||||||
Pflicht der Rechtschaffenheit, für die unnachläßlichste Pflicht die das höchste Vernunftgesetz | |||||||
im ganzen Geisterreiche, die reine Liebe, vorschreibt, daß Sie dies | |||||||
schon längst hätten thun sollen, ehe es mit der ärgerlichen Anarchie unter denen | |||||||
die sich von Ihrem Namen Kantianer nennen so weit kam als es gekommen ist, | |||||||
und daß Sie es wenigstens nun noch ohne Verzug thun, da Beck so große Schwierigkeiten | |||||||
in den Geist Ihrer Kritik einzudringen aufstellt, Reinholden weitläuftig | |||||||
widerlegt, und sich des einzig möglichen Standpunktes die Kritik der reinen Vernunft | |||||||
zu verstehn bemeistert zu haben vorgiebt. Die Männer die sich so über den | |||||||
Sinn und Geist Ihrer Schriften zanken, verderben mit diesem unnützen Kriege die | |||||||
edle Zeit, die sie zu bessern Zwecken und zu gemeinnützigen Geschäften für das | |||||||
wahre Wohl unserer Mitmenschen anwenden könnten, und sollten. Sie erwecken | |||||||
und nähren gehässige Gesinnungen wider einander selbst, entehren die Menschheit, | |||||||
und machen sich des Namens wahrer Philosophen unwürdig. Daran aber sind | |||||||
Sie mein Kant! allein Schuld; und Sie vergrößern Ihre Schuld von Tag zu Tage | |||||||
mehr, wenn Sie nicht frei heraus bekannt machen welcher von den Streitern Ihre | |||||||
Schriften, wenigstens die Hauptpunkte, wirklich versteht wie Sie solche verstanden | |||||||
wissen wollen. Thun Sie es nicht, so führen Sie in Ihrer kritischen | |||||||
Philosophie einen neuen Thurm zu Babel auf, an welchem der unendliche Weltrichter | |||||||
nicht nur die Sprache sondern auch den Geist Ihrer Mitarbeiter zum Wehe | |||||||
der menschlichen Gesellschaft - welch' eine Verantwortung für Sie!! - noch gänzlich | |||||||
verwirren und der wahren Weisheit unfähig machen wird, wie es leider! der | |||||||
Anfang bereits zeigt. | |||||||
Drittens kann man eben daraus, daß es Ihnen bisher nicht möglich war | |||||||
durch Ihre kritische Schriften Ihre Anhänger und Mitarbeiter in der Art wie die | |||||||
gemeinschaftliche Absicht der kritischen Philosophie erreicht werden sollte, einhellig | |||||||
zu machen, nach Ihrem eigenen im Anfange der Vorrede zur zweiten Ausgabe | |||||||
der Kritik der reinen Vernunft geäußerten Urtheile, immer überzeugt sein: | |||||||
daß Ihr kritisches Studium bei weitem noch nicht den sichern Gang einer Wissenschaft | |||||||
eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei. | |||||||
Diese drei Ursachen wären schon hinlänglich gewesen, mir alles Vertrauen | |||||||
auf Ihre kritische Arbeiten zu benehmen, und mir Abneigung zu machen in Ihrer | |||||||
Gesellschaft, mein Kant! den Weg der Wahrheit zu suchen und zu durchwandern. | |||||||
Allein ich glaube | |||||||
Viertens im Stande zu sein Ihr ganzes philosophisches System, so weit | |||||||
es Ihr eignes ist, beides den theoretischen und praktischen Theilen nach, völlig umzustürzen, | |||||||
weil die ersten Gründe desselbigen unhaltbar sind, auch nach meinem | |||||||
inneren Gefühl von Ihnen Selbst niemal so diktatorisch würden behauptet worden | |||||||
sein, wenn Sie Sich nicht hätten durch Ihre allenthalben so deutlich sich offenbarende | |||||||
allzueitle Absichten bei Ihren philosophischen Arbeiten, und durch die daraus | |||||||
entstandene unmäßige Vorliebe für Ihre eigenen Begriffe, und die aus dieser | |||||||
Vorliebe entsprungene Vernachläßigung der nöthigen Aufmerksamkeit auf die Wirkungen | |||||||
des menschlichen Geistes, täuschen lassen. | |||||||
Ich wünschte nun allerdings recht sehr, mein werthester, mein brüderlichgeliebter | |||||||
Kant! daß Sie Selbst Sich dazu bequemen mögten, wie Sie es thun zu | |||||||
wollen Sich vormal in den Prolegomenen zur Metaphysik erklärten mit mir in | |||||||
philosophische Verhandlungen über meine ausführliche Prüfung Ihrer Kritik der | |||||||
reinen Vernunft einzugehn. Wenn Sie es aber, wie es aus der Vorrede zur zweiten | |||||||
Auflage Ihrer Kritik zu ersehen, oder doch zu vermuthen ist, nicht so wollen, so | |||||||
sagen Sie mir, welchen von Ihren Schülern oder Anhängern Sie für den halten | |||||||
der Ihre Stelle in Absicht auf die Vertheidigung Ihres Systems am vollkommensten | |||||||
vertreten kann, damit ich mich an diesen wende. Meine Briefe an Sie, über den | |||||||
Nutzen den Sie der Welt von Ihrer kritischen Philosophie verheißen, über die Einleitung | |||||||
Ihrer Kritik der reinen Vernunft, über Ihre Aesthetik, und über einen großen | |||||||
Theil der transszendentalen Logik, liegen nun fertig da um an Sie abgesandt werden | |||||||
zu können. Aber ich mögte dies nur erst alsdann thun, wenn Sie mir vorher die | |||||||
Versicherung geben, selbst, oder durch Ihren vertrautesten Freund und Schüler, | |||||||
von welchem Sie mit Gewißheit bestimmt sagen können daß er Ihr System sich | |||||||
ganz zu eigen gemacht habe, so viel wenigstens den Zentralpunkt desselben betrift, | |||||||
mir eine Antwort zu ertheilen, und mit mir die wichtigen philosophischen | |||||||
Materien soweit zu behandeln, bis wir einander, entweder Sie mir, oder ich Ihnen, | |||||||
vollkommen beizustimmen genöthigt sein werden. Ich gebe Ihnen das heiligste | |||||||
Versprechen immer nur streng bei der Sache zu bleiben, nichts Fremdes einzumischen, | |||||||
mit reiner Simplizität durchaus zu Werke zu gehen, keinem spöttelnden | |||||||
Witz über Sie oder über Ihre Behauptungen Raum zu lassen, und vom Anfange | |||||||
bis ans Ende die durch die Gerechtigkeit selbst gebotene Bescheidenheit und Achtung | |||||||
gegen Sie zu beobachten. Mir liegt Alles daran die Wahrheit zu erkennen, und | |||||||
unter meinen Mitmenschen auszubreiten. Wenn Sie nun, mein lieber Kant! von | |||||||
der ächten Liebe zur Wahrheit ebenfalls belebt sind, wie ich herzlich wünsche, und | |||||||
solches von Ihnen so gern glauben mögte; so habe ich das völlige Vertrauen zu Ihrem | |||||||
und zu meinem Eifer, zu Ihren und zu meinen Kräften, daß wir durch unsre gegenseitige | |||||||
Verhandlungen für die wahre Philosophie die wichtigsten Dienste leisten werden. | |||||||
Wenn Sie meine Einwürfe wider Ihr System gründlich auflösen, und mich | |||||||
von Ihren Begriffen und Behauptungen überzeugen sollten, so werde ich der redlichste | |||||||
Mitarbeiter in dem Felde Ihrer kritischen Philosophie werden. Ich lege | |||||||
nächstens mein sechsundsechzigstes Iahr zurück; und beinahe funfzig Iahre hindurch, | |||||||
auch selbst neben und in den öffentlichen Geschäften die mir meine Aemter auflegten, | |||||||
habe ich meinen Geist mit der Philosophie emsig und mit Anstrengung beschäftiget. | |||||||
Sie werden also auf den angenommenen Fall zuverlässig einen weit stärkern und | |||||||
glücklicheren Vertheidiger und Ausbreiter Ihres Systems haben, als Sie izt an so | |||||||
vielen aufbrausenden Iünglingen und jugendlichen Männern haben, die als sich so | |||||||
nennende Kantianer zwar mit stolzer Unbescheidenheit auch den größten Geistern | |||||||
Hohn sprechen, gleichwohl aber, wie ihre Schriften nur allzudeutlich zeigen, im | |||||||
Selbstdenken gar zu wenig geübt sind, und mit jugendlicher Dreistigkeit und | |||||||
Selbstgenügsamkeit das was sie ihrem Lehrer blos nachbeten, für eigne Geistesprodukte | |||||||
aufstellen, und, da sie aus Mangel des Selbstdenkens in den Geist ihres | |||||||
Führers nicht tief genug eindringen können, mit einander selbst die entehrendsten | |||||||
Streitigkeiten führen, und sich und die Welt verwirren. | |||||||
Wenn aber auf der andern Seite ich Sie von der Unrichtigkeit Ihrer kritischen | |||||||
Philosophie überführen werde, so werden Sie, wie ich es von Ihnen hoffe, zum | |||||||
Besten der Menschen widerrufen was Sie bisher schrieben; und dagegen werden | |||||||
Sie noch vor Ihrem wahrscheinlich nicht mehr fernen Abschiede aus dieser Welt | |||||||
den schmalen Weg zu der wahren festen Philosophie selbst betreten, und solange | |||||||
Sie noch leben, breiter machen helfen. Die wahre Philosophie bildet die unwidersprechlichste | |||||||
Theorie von der Realität einer unendlichen Allkraft, von den produktiven | |||||||
Kräften der Natur, und von den bewunderungswürdigen und erhabenen Eigenschaften | |||||||
und Fähigkeiten des physischen und des geistigen Menschen; und in ihrem | |||||||
praktischen Theile will sie nicht durch einen lieblosen despotischen kategorischen Imperativ, | |||||||
der selbst dem Wesen der Vernunft ganz zuwider ist, sondern durch die | |||||||
sanften allmächtigen Seile der allbelebenden Liebe, die Menschen - nicht einem | |||||||
bloßen Ideal des höchsten Guten, sondern dem realsten Wesen aller Wesen, Gotte, | |||||||
immer näher bringen. Diese Philosophie, mein lieber alter Bruder Kant! wird | |||||||
die vielen unruhigen Wünsche Begierden und Strebungen Ihrer unmäßigen Selbstsucht | |||||||
stillen, und Ihnen einen inneren unaussprechlichen himmlischen Frieden verschaffen; | |||||||
welches Ihre, in so vielen Bagatellen und Nichtswürdigkeiten sich herumtreibende | |||||||
Philosophie nie vermag. | |||||||
Hier schließe ich nun meinen Brief, lieber Kant! Ich schrieb ihn als Ihr | |||||||
redlicher Mitmensch und Bruder, weil es mich innigst schmerzte, Sie auf einem | |||||||
Wege wandeln zu sehen der zu Ihrer eigenen Seele und zu so vieler Menschen | |||||||
Verderben führt. Gott verzeihe es jenen niedrigen und unwürdigen Schmeichlern, | |||||||
die bisher sich nicht schämten aus Unverstand Sie der Welt zum Abgott aufzustellen, | |||||||
und dadurch Ihre arme allzueigensüchtige Seele aufs höchste zu reizen, sich | |||||||
Ihrer Selbstheit ganz zu überheben! Ich bitte Sie um eine baldige meinen Wünschen | |||||||
entsprechende Antwort, und bleibe stets Ihr aufrichtiger Bruder, und in Hinsicht | |||||||
auf Ihre Talente und Thätigkeit | |||||||
Ihr | |||||||
wahrer Verehrer | |||||||
Iohann August Schlettwein. | |||||||
Erklärung. | |||||||
29. Mai 1797. | |||||||
In einem Briefe dd. Greifswalde den 11ten May 1797, der | |||||||
sich durch seinen seltsamen Ton sonderbar ausnimmt, und gelegentlich | |||||||
dem Publikum mitgetheilt werden soll, muthet mir Hr. Iohann Aug. | |||||||
Schlettwein zu, mich mit Ihm in einen Briefwechsel über die kritische | |||||||
Philosophie einzulassen; zu welchem Behuf schon verschiedene Briefe | |||||||
über mancherley Punkte derselben bey Ihm fertig lägen, wobey er denn | |||||||
zugleich erklärt: "er glaube im Stande zu seyn, mein ganzes philosophisches | |||||||
System, so weit es mein eigenes ist, beides den theoretischen | |||||||
und practischen Theilen nach, völlig umzustürtzen" welchen Versuch gemacht | |||||||
zu sehen jedem Freunde der Philosophie lieb und angenehm seyn | |||||||
wird. Was aber die Art dieses auszuführen betrifft, nämlich durch | |||||||
einen mit mir darüber anzustellenden Briefwechsel (schriftlich oder | |||||||
gedruckt), so muß ich Ihm darauf kurz antworten: hieraus wird | |||||||
nichts. Denn es ist ungereimt etwas, was Iahre lang fortgehen muß, | |||||||
um mit Einwürfen und Beantwortungen nur erträglich fortzurücken, | |||||||
einem Manne in seinem 74 sten Iahre (wo das sarcinas colligere | |||||||
wohl das Angelegenste ist) anzusinnen. - - Die Ursache aber, warum | |||||||
ich diese Erklärung (die ich ihm schon schriftlich gethan habe) hier | |||||||
öffentlich thue, ist: weil, da der Brief quaest. deutlich auf Publicität | |||||||
angelegt ist, und daher jener Anschlag mündlich verbreitet werden dürfte, | |||||||
diejenigen, welche ein solcher Streit interessirt, sonst mit leeren Erwartungen | |||||||
hingehalten werden würden. Da indessen Hr. Schlettwein | |||||||
seinen Vorsatz des Umstürzens, mithin auch des Sturmlaufens, wahrscheinlich | |||||||
in Masse (wie er sich denn auf Alliirte zu verlassen scheint) | |||||||
vermuthlich dieser Schwierigkeit wegen nicht aufgeben wird, und ihm, | |||||||
nach dieser meiner Erklärung, an meiner Person ein Hauptgegner abgeht: | |||||||
so frägt er mit weiser Vorsicht an: "welcher unter den Streitern | |||||||
wohl meine Schriften, wenigstens die Hauptpunkte derselben, | |||||||
wirklich versteht, wie ich solche verstanden wissen will" - Ich antworte | |||||||
darauf unbedenklich: es ist der würdige Hofprediger und ordentliche | |||||||
Professor der Mathematik allhier, Hr. Schulz; dessen Schriften | |||||||
über das kritische System, unter dem Titel: Prüfung etc. Hr. Schlettwein | |||||||
hierüber nur nachzusehen hat. | |||||||
Nur bedinge ich mir hierbey aus, anzunehmen: daß ich seine (des | |||||||
Hn. Hofpredigers) Worte nach dem Buchstaben, nicht nach einem | |||||||
vorgeblich darin liegenden Geist (da man in dasselbe hineintragen kann | |||||||
was einem gefällt), brauche. Was Andere mit eben denselben Ausdrücken | |||||||
für Begriffe zu verbinden gut gefunden haben mögen, das geht | |||||||
mich und den gelehrten Mann, auf den ich compromittire, nichts an; | |||||||
den Sinn aber, den dieser damit verbindet, kann man aus dem Gebrauch | |||||||
desselben im Zusammenhange des Buchs nicht verfehlen. - Und | |||||||
nun mag die Fehde, bey der es dem Angreifenden an Gegnern nicht | |||||||
fehlen kann, immer angehen. | |||||||
Königsberg d. 29 sten May 1797. | |||||||
I. Kant. | |||||||
Von Iohann August Schlettwein. | |||||||
Zweiter Brief. | |||||||
Greifswalde, d. 4 Iunius 1797. | |||||||
Ich danke Ihnen, mein lieber Kant! für Ihr Antwortschreiben vom 19 ten | |||||||
vorigen Monats aufs verbindlichste. Theils haben Sie in demselben meinen Wunsch | |||||||
erfüllt, mir zu sagen daß Sie den Hrn. Hofprediger Schulz unter den Ihnen anhänglichen | |||||||
Schriftstellern für den Mann halten der Sie am besten versteht: | |||||||
welches ich so annehme, wie meine Bitte enthielt, daß der benannte Gelehrte den | |||||||
wahren Geist und Sinn Ihrer Philosophie sich ganz zu eigen gemacht habe; | |||||||
theils haben Sie dadurch mich noch näher mit Ihrem Charakter und Ihrer Denkungsart | |||||||
bekannt gemacht. | |||||||
Von Herzen bedaure ich, daß Ihr Geist nicht verstehen und Ihr Herz nicht | |||||||
fühlen konnte, wie ein Mensch aus wahrer inniger Gottesliebe seinem Mitmenschen | |||||||
und Bruder, der durch seine Schriften die Welt erleuchten und bessern | |||||||
will, solches aber in Seinselbsterhebung und in Herabwürdigung seiner Mitbrüder | |||||||
thut, und überdies unter seinen Anhängern bittre Zänkereien über den Geist seiner | |||||||
Schriften veranlaßt, ihn umarmend und an sein Herz drückend, sagen kann und soll: | |||||||
Siehe, mein Bruder! Dein Benehmen gegen unsre Mitmenschen drückt | |||||||
Stolz, Aufgeblasenheit, Arroganz, und Geringschätzung gegen unsre Mitbrüder | |||||||
aus. Vermeide es doch Dich so zu zeigen, weil Wahrheit und Liebe damit | |||||||
nicht bestehen. Auch ist es der Rechtschaffenheit nicht gemäß, mein Lieber, | |||||||
daß Du unter unsern Mitbrüdern Disharmonieen und ärgerliche Zänkereien | |||||||
über den wahren Sinn und Geist Deiner Schriften stiftest, und nicht | |||||||
sogleich bestimmt heraussagst welches der richtige Sinn und der wahre Geist | |||||||
Deines Systems ist. Wahrhaftig, mein lieber Bruder! Du darfst nicht warten | |||||||
bis man dich öffentlich darum befragt; die Rechtschaffenheit macht es Dir | |||||||
zur Pflicht daß Du, um die Entzweiungen und Feindseligkeiten, die Du bloß | |||||||
durch Deine Schriften unter unsern Mitbrüdern veranlasset oder erregt hast | |||||||
bei ihrem ersten Ausbruch zu dämpfen und alle weitre Vergrößerung und | |||||||
Verbreitung derselben zu hindern, unaufgefordert sagest welcher von Ihnen | |||||||
Deinen Sinn recht gefaßt hat, und welcher nicht. | |||||||
So spricht gewiß der liebevolle Mensch mit seinem Mitmenschen; und dieser, | |||||||
wenn er gut und pflichtachtend ist, schöpft aus der offenen Sprache der redlichen | |||||||
Bruderliebe so wenig einen Verdacht des Meuchelmordes, *) daß er vielmehr seinem | |||||||
Bruder für dessen aufrichtige schuldige Ermahnung herzlich dankt, und sich zu | |||||||
bessern sucht. | |||||||
Daß Sie aber, mein lieber Kant, Sich mit mir weder in einen Privat= noch | |||||||
öffentlichen Briefwechsel über Ihre Kritik der r. V. und über Ihre ganze Philosophie | |||||||
einlassen wollen: das ist mir außerordentlich leid. Ich nahm es stets für | |||||||
Ihre ernstliche redliche Gesinnung an, wenn Sie in Ihren Schriften mehrmal | |||||||
wünschten daß Ihre Sätze von Grund aus untersucht werden mögten, und wenn | |||||||
Sie den Vorschlag thaten Ihr Gebäude der Vernunftkritik nicht etwa nur in einem | |||||||
oder dem andern Punkte, sondern von seiner ganzen Grundlage an Stück | |||||||
vor Stück zu prüfen, um dadurch ein festes philosophisches Lehrgebäude, es sei | |||||||
das Ihrige oder ein anderes, zum wahren Besten der Welt zu Stande zu bringen. | |||||||
Nie war es meine Meinung, mit Ihnen einen Kampfplatz zu betreten, oder einen | |||||||
Prozeß zu führen. Kämpfen und Prozessiren sind meine Sache nicht, wo es auf | |||||||
Belehren oder belehrt werden, auf Nachdenken, Erforschen, Untersuchen, Prüfen, | |||||||
Zweifel mittheilen und Zweifel lösen, ankommt. Auch mag ich zu diesen Absichten | |||||||
meine jüngern Mitbrüder zum Kämpfen weder reizen noch ermuntern. Ich wollte | |||||||
nur mit Ihnen, mein Wehrter, oder mit Ihrem besten Schüler oder Anhänger | |||||||
über Ihr philosophisches System friedliche und der Menschheit würdige Verhandlungen | |||||||
anstellen; ich wollte dies für die Wahrheit, die sich nicht auf Kampfplätzen | |||||||
sondern nur in dem stillen ihr geheiligten Tempel der Liebe und des Friedens | |||||||
finden läßt. | |||||||
Ich werde also nächstens an den Hrn. Hofprediger Schulz schreiben, ihm | |||||||
meine Gesinnung in Ansehung einer ausführlichen und gründlichen Prüfung Ihres | |||||||
Systems mittheilen, und mir dagegen die Eröfnung der seinigen ausbitten. Um | |||||||
die Wahrheiten die Sie selbst für so außerordentlich wichtig halten, weiter aufzuklären, | |||||||
und wo möglich zu befestigen, oder ein anderes richtigers und unwankelbareres | |||||||
System der Philosophie gründen zu helfen, wird der gelehrte Mann, wie | |||||||
ich hoffe, nicht seine Neigung - denn die muß hier ganz schweigen - sondern | |||||||
nur seine Pflichten von allen Seiten zu Rathe ziehn. | |||||||
Leben Sie nun recht wohl, mein lieber Kant! und sein Sie versichert daß ich, | |||||||
mit dem Wunsche: Ihnen mein ganzes Herz und aufrichtiges inneres Bestreben um | |||||||
Wahrheit offen darlegen, und auf reelle Art Ihnen gefällig sein zu können, unveränderlich | |||||||
verharre | |||||||
Ihr | |||||||
redlicher Bruder und Freund | |||||||
Schlettwein. | |||||||
*) Dies bezieht sich auf eine Stelle meiner Antwort an Prof. Schlettwein, vom 19 Mai 1797, die so lautet: | |||||||
"Sie können es, sagen Sie, mit der wahren Rechtschaffenheit nicht reimen, daß ich nicht bestimmt heraussage, welcher unter den mir anhängigen Schriftstellern meinen Sinn wirklich getroffen hat. Die Ursache ist, weil mich noch Niemand darum öffentlich befragt hat. Aber daß Iemand einem Andern Mangel an Rechtschaffenheit vorrückt, und doch in einem Athem ihn mit "mein Lieber" anredet: das ist ein Bittersüß ( dulcamara , ein Giftkraut), welches wegen der Absicht auf Meuchelmord verdächtig macht." | |||||||
I. Kant | |||||||
[ abgedruckt in : AA XII, Seite 362 ] [ Öffentl. Erkl. 4 ] [ Öffentl. Erkl. 6 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |