Kant: Briefwechsel, Brief 507, An Christian Gottlieb Selle.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Christian Gottlieb Selle.      
           
  24. Febr. 1792.      
           
  Wohlgebohrner      
  hochzuverehrender Herr!      
  Es sind nun schon beynahe 3 Monate seit denen ich mit Ihrer      
  tiefgedachten Abhandlung De la Realité et de l'idealité etc. beschenkt      
  worden und ich habe diese Gütigkeit noch durch nichts erwiedert; sicherlich      
  ist es aber nicht aus Mangel an Achtung für die mir bezeugte      
  Aufmerksamkeit oder aus Geringschätzung der wider mich gerichteten      
  Argumente geschehen. Ich wollte im Drucke antworten und würde es      
  vielleicht in der über diesen Vorsatz verflossenen Zeit ausgerichtet      
  haben, wenn mich nicht allerlei einander durchkreuzende Störungen      
  immer davon abgebracht hätten, zumal es mir mein Alter höchst schwer      
  macht, einen einmal verlassenen Faden des Nachdenkens wieder aufzufassen      
  und unter öfteren Unterbrechungen doch planmäßig zu arbeiten.      
           
  Neuerdings aber eröffnet sich eine neue Ordnung der Dinge,      
  welche diesen Vorsatz wohl gar völlig vereiteln dürfte, nämlich Einschränkung      
  der Freiheit, über Dinge, die auch nur indirect auf Theologie      
  Beziehung haben möchten, laut zu denken. Die Besorgnisse eines      
  akademischen Lehrers sind in solchem Falle viel dringender als jedes      
  anderen zunftfreyen Gelehrten und es ist der gescheuten Vorsicht gemäs,      
  alle Versuche dieser Art so lange wenigstens aufzuschieben, bis      
  sich das drohende Meteor entweder vertheilt, oder für das, was es ist,      
  erklärt hat - Es wird bei dieser Friedfertigkeit auf meiner Seite      
  Ihnen deswegen doch nicht an Gegnern von der dogmatischen Parthei,      
  obwohl nach einem andern Styl, fehlen, denn den Empirism können      
  diese ebenso wenig einräumen, ob sie es zwar freylich auf eine so      
  schaale und inconsequente Art (da er nicht halb auch nicht ganz angenommen      
  werden soll) thun, daß Ihre determinirte Erklärung für      
  dieses Princip dagegen sehr zu Ihrem Vortheil absticht.      
           
  Ich bitte daher, theuerster Herr, ergebenst mir diese Verbindlichkeit      
  zu erlassen, oder den Anspruch auf dieselbe und meine Erwiederung      
  Ihrer Einwürfe weiter hinaus zu setzen, indem diese Arbeit vorjetzt      
  allem Ansehen nach auf reinen Verlust unternommen werden würde.      
           
           
  Mit der größten Hochachtung für Ihr Talent und mannichfaltige      
  Verdienste bin ich übrigens      
           
    Ihr      
  Königsberg, ergebenster Diener      
  den 24. Febr. 1792. I. Kant.      
           
           
           
     

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