Kant: AA XI, Briefwechsel 1792 , Seite 327 |
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| 507. | |||||||
| 02 | An Christian Gottlieb Selle. | ||||||
| 03 | 24. Febr. 1792. | ||||||
| 04 | Wohlgebohrner | ||||||
| 05 | hochzuverehrender Herr! | ||||||
| 06 | Es sind nun schon beynahe 3 Monate seit denen ich mit Ihrer | ||||||
| 07 | tiefgedachten Abhandlung De la Realité et de l'idealité etc. beschenkt | ||||||
| 08 | worden und ich habe diese Gütigkeit noch durch nichts erwiedert; sicherlich | ||||||
| 09 | ist es aber nicht aus Mangel an Achtung für die mir bezeugte | ||||||
| 10 | Aufmerksamkeit oder aus Geringschätzung der wider mich gerichteten | ||||||
| 11 | Argumente geschehen. Ich wollte im Drucke antworten und würde es | ||||||
| 12 | vielleicht in der über diesen Vorsatz verflossenen Zeit ausgerichtet | ||||||
| 13 | haben, wenn mich nicht allerlei einander durchkreuzende Störungen | ||||||
| 14 | immer davon abgebracht hätten, zumal es mir mein Alter höchst schwer | ||||||
| 15 | macht, einen einmal verlassenen Faden des Nachdenkens wieder aufzufassen | ||||||
| 16 | und unter öfteren Unterbrechungen doch planmäßig zu arbeiten. | ||||||
| 17 | Neuerdings aber eröffnet sich eine neue Ordnung der Dinge, | ||||||
| 18 | welche diesen Vorsatz wohl gar völlig vereiteln dürfte, nämlich Einschränkung | ||||||
| 19 | der Freiheit, über Dinge, die auch nur indirect auf Theologie | ||||||
| 20 | Beziehung haben möchten, laut zu denken. Die Besorgnisse eines | ||||||
| 21 | akademischen Lehrers sind in solchem Falle viel dringender als jedes | ||||||
| 22 | anderen zunftfreyen Gelehrten und es ist der gescheuten Vorsicht gemäs, | ||||||
| 23 | alle Versuche dieser Art so lange wenigstens aufzuschieben, bis | ||||||
| 24 | sich das drohende Meteor entweder vertheilt, oder für das, was es ist, | ||||||
| 25 | erklärt hat - Es wird bei dieser Friedfertigkeit auf meiner Seite | ||||||
| 26 | Ihnen deswegen doch nicht an Gegnern von der dogmatischen Parthei, | ||||||
| 27 | obwohl nach einem andern Styl, fehlen, denn den Empirism können | ||||||
| 28 | diese ebenso wenig einräumen, ob sie es zwar freylich auf eine so | ||||||
| 29 | schaale und inconsequente Art (da er nicht halb auch nicht ganz angenommen | ||||||
| 30 | werden soll) thun, daß Ihre determinirte Erklärung für | ||||||
| 31 | dieses Princip dagegen sehr zu Ihrem Vortheil absticht. | ||||||
| 32 | Ich bitte daher, theuerster Herr, ergebenst mir diese Verbindlichkeit | ||||||
| 33 | zu erlassen, oder den Anspruch auf dieselbe und meine Erwiederung | ||||||
| 34 | Ihrer Einwürfe weiter hinaus zu setzen, indem diese Arbeit vorjetzt | ||||||
| 35 | allem Ansehen nach auf reinen Verlust unternommen werden würde. | ||||||
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