Kant: Briefwechsel, Brief 490, Von Carl Sigismund von Seidlitz. |
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Von Carl Sigismund von Seidlitz. | |||||||
Endersdorf den 12ten Octbr. 1791 | |||||||
Wohlgebohrner Herr, | |||||||
Verehrungswürdiger Herr Profeßor, | |||||||
Ueberzeugt, daß ein Kant (verzeihen Sie, daß ich Sie so grade | |||||||
weg bei Ihrem Namen nenne, allein er sagt mir so ungleich mehr, | |||||||
als alle Tittel in der Wellt) kein Streben nach Wahrheit u: Aufschluß, | |||||||
selbst wenn es auch mit einem ziemlich hohen Grade von Zudringlichkeit | |||||||
verbunden seyn sollte, übel aufnehmen u: den lehrbegierigen | |||||||
Iünger seiner Weißheit gantz unerbittlich wohl nicht von sich abweisen | |||||||
kann, nehme ich mir nochmals u: nunmehr auch öffentlich in der beiliegenden | |||||||
kleinen Schrift (welche ich mich Ihnen zuzueignen unterstanden | |||||||
habe) meine Zuflucht in den Angelegenheiten meines Geistes | |||||||
zu Ihnen - dem edlen u: weisen Mann, dem nunmehr der denkende | |||||||
Theil des Menschengeschlechts seine kostbarsten Besitzungen verdankt. | |||||||
Zwar antworteten Sie mir auf meinen ersten, vor dem Iahre geschriebenen | |||||||
Brief nicht; - allein das war kein Wunder. Vielleicht | |||||||
finden Sie gegenwärtigen einer Antwort nicht ganz unwürdig. - Um | |||||||
Ihnen eine Schrift öffentlich zu weihen, sollte sie nun wohl wichtigere | |||||||
Wahrheiten, oder wenigstens neuere Entdeckungen enthalten, als diese | |||||||
gegenwärtige, allein ein jeder giebt so gut er geben kann. Ich weiß Sie | |||||||
sehen auf das Opfer des Hertzens u: deßen Gesinnungen, nicht auf | |||||||
die Größe u: Güte des Opfers selbst. - Wäre ich kein gebohrner | |||||||
Christ u: hätte daher auch nie die beseligenden Wirkungen dieser als | |||||||
festgeglaubten Religion für Ruhe u: Moralität erfahren; so könnte ich | |||||||
mich bei dem was mich Philosophie allein lehrt, sehr gern beruhigen; | |||||||
indem mir die Kritische insonderheit (so mangelhaft auch meine Kenntniß | |||||||
davon noch ist) völlig überzeugende Gewißheit über meine Pflichten | |||||||
u: Rechte in diesem u: für die Erwartung eines zukünftigen Lebens | |||||||
ertheilt. Allein da ich in einer Religion gebohren u: erzogen worden | |||||||
bin, die für eine unmittelbare Belehrung Gottes über diese Gegenstände | |||||||
ausgegeben wird; so scheint mir diese Religion meiner größten | |||||||
Aufmerksamkeit u: schärfsten Prüfung würdig, - beides heilige, unverletzliche | |||||||
Pflicht zu seyn. Ob ich mir nun zwar bewußt bin, bei | |||||||
dieser Prüfung stets redlich u: gewißenhaft zu Werke gegangen zu | |||||||
seyn; so war doch der Erfolg derselben nie meinen Wünschen gemäß | |||||||
u: für meine Ruhe günstig. - Auf der einen Seite, so viel erhabne | |||||||
göttliche Würde in dieser Religion, - so viel Kraft u: Nachdruck | |||||||
so viel sichtbare u: auch einst selbst gefühlte Wirkung aufs Hertz u: | |||||||
die Beßerung der Menschen - so viel tiefe Weißheit bei einem, in | |||||||
dem finstersten Zeitalter, unter der dümsten u: abergläubischesten | |||||||
Nation gebohrnen u: erzognen gemeinen Iuden - so viel hohe, beispiellose | |||||||
Würde in seinem Charakter u: Betragen - die göttlichste | |||||||
Menschenliebe - die standhafteste Aufopferung aller seiner Glückseligkeit | |||||||
u: selbst des Lebens für die Wahrheit - verspottet u: gemißhandelt | |||||||
am Kreutz (als Märtirer der Tugend u: Wahrheit) von den | |||||||
ruchlosesten Menschen, von seinen Feinden u: Verfolgern, betet er | |||||||
für sie - empfiehlt seinen Geist in die Hände seines himmlischen | |||||||
Vaters - stirbt, sichtbar betrauert von der gantzen Natur, unter den | |||||||
unerhörtesten Quaalen, mit einer Freudigkeit, die selbst einen römischen | |||||||
Krieger ausruffen läßt: "das ist wahrlich Gottes= Sohn u: ein | |||||||
frommer Mensch gewesen!" - diese große Begebenheit geschah | |||||||
nicht im Winkel, sondern vor den hunderttausend Augen Ierusalems, | |||||||
im Angesicht der gantzen Nation - wurde nicht (so wie ebenfalls alle | |||||||
andere erstaunenswürdigen Begebenheiten mit Iesu) Hundert Iahr | |||||||
nach seinem Tode, sondern sogleich u: öffentlich von Augenzeugen | |||||||
u: Vertrauten Iesu aufgeschrieben - sie wurden vor Gericht verhört | |||||||
u: niemand konnte ihnen wiedersprechen - keiner von den Hunderttausenden, | |||||||
welche die Thaten Iesu gesehen hatten, trat auf u: zeugte | |||||||
wieder sie - selbst sein Verräther erklärte ihn für unschuldig, verz[w]eifelte | |||||||
u: hing sich - seine Religion wurde von denen, die Zeugen | |||||||
seiner Thaten gewesen waren meistentheils angenommen - angenommen | |||||||
von einem Volk, welches so unduldsam gegen jede andere Religion als | |||||||
die seinige war - eine Religion, welche die Mosaische, an der dies | |||||||
Volk so sehr hing, gradezu über den Hauffen warf - eine Religion, | |||||||
die nichts weniger, als zeitliche Vortheile u: Glükseligkeit, vielmehr das | |||||||
elendeste Leben u: den schmerzhaftesten, schmachvollesten Tod versprach. | |||||||
Ihre Bekenner - (welche sämmtlich für Idioten, Phantasten u: Thoren | |||||||
zu erklären doch etwas viel gewagt wäre) - bewiesen eine so unerschütterliche | |||||||
Ueberzeugung von der Wahrheit u: Göttlichkeit derselben, | |||||||
daß sie nichts von ihr abwendig machen konnte, sie blieben unter den | |||||||
grausamsten Quaalen, die Menschen erdulden u: teuflische Boßheit erfinden | |||||||
kann, dennoch standhaft u: ihrem Glauben, auf glühendem Rost | |||||||
u: - wer bebt nicht zurük mehrere dieser verschiedenen Arten von | |||||||
Unmenschlichkeiten zu nennen! - getreu. - Ich nehme die Schriften | |||||||
der ersten Bekenner dieser Religion zur Hand. Ihre Schreibart ist | |||||||
nichts weniger, als gekünstelt, überspannt u: declamatorisch, sondern | |||||||
überall herscht ein gewißer zuversichtlicher Ton, der der Ueberzeugung | |||||||
von der Wahrheit u: Rechtmäßigkeit seiner Sache eigen zu seyn pflegt; | |||||||
eine liebenswürdige Einfalt in ihren Vorträgen. Iedes Buch, fast | |||||||
jedes Capittel athmet den Geist wahrer Tugend u: der uneigennützigsten | |||||||
Menschenliebe. Von ihrem Helden sprechen sie mit Wärme u: voll | |||||||
Gefühl seiner erhabenen Würde u: Bestimmung, aber ohne allen | |||||||
Schwall von Worten u: Lobeserhebungen. Selbst wenn sie seine außerordentlichsten | |||||||
Thaten erzählen u: rühmen, thun sie dieß mit solcher | |||||||
Bescheidenheit u: Mäßigung, als man wohl von wenig profanen Geschichtschreibern | |||||||
bei der Erzählung der Begebenheiten u: Thaten ihrer | |||||||
ungleich kleinern Helden alter u: neuer Zeit rühmen kann. - Kann | |||||||
hier noch Betrug statt finden, o! so ist meine Vernunft selbst der | |||||||
schändlichste Betrug eines feindseligen Dämon mich irre zu führen! | |||||||
Keine Declamation in der Welt kann diese vernünftige - (nicht in | |||||||
der Phantasie gegründete) - Ueberzeugung wankend machen; u: | |||||||
Gründe? - vielleicht! - Es müßten aber doch auch andere, als die | |||||||
bisher von den Gegnern der Religion vorgebrachten seyn. - Auf der | |||||||
andern Seite findet sich so manches Räthselhafte, Unbegreifliche, unsere | |||||||
Begriffe von Gottes Gerechtigkeit u: allgemeiner Vaterliebe scheinbar | |||||||
verdunkelnde u: verwirrende, in den Behauptungen seiner Lehrjünger | |||||||
u: ihren Nachrichten von seinen Reden, welche dieselben nicht etwan | |||||||
nur so vom Hörensagen erfahren, sondern die täglich 3 volle | |||||||
Iahre in seinem vertrautesten Umgang zugebracht hatten u: die | |||||||
nach seinem Tode mit Wundergaben u: übernatürlicher Erleuchtung | |||||||
ausgerüstet wurden, der Wellt Wahrheit, göttliche Wahrheit zu lehren. | |||||||
Wer lößt mir dies größte unter allen nur möglichen Räthseln ? Ich | |||||||
bin wahrlich kein Sklave von Autoritäten, aber eine Autorität, welche | |||||||
- nicht die Phantasie - sondern die Vernunft selbst (deren Rechte | |||||||
doch nicht bloß in der Philosophie gelten) so unwiederstehlich als | |||||||
göttlich aufdringt, sollte die nicht den gewißenhaften Verehrer der | |||||||
Wahrheit in Versuchung führen zu glauben, daß noch ein Zeitpunct | |||||||
kommen werde, wo die dadurch bestätigte Lehre in allen ihren Theilen | |||||||
vollkommen, allgemein anerkannte Vernunftmäßigkeit erhalten wird? | |||||||
Wir haben zwar unsere Vernunft erhalten Weitzen u: Unkraut von | |||||||
einander zu scheiden, allein welcher Feind kann in eine göttliche | |||||||
Offenbarung Unkraut gesät haben? Oder warum ließ dies der | |||||||
Herr der Aerndte zu? | |||||||
Dieß sind Fragen, deren Beantwortung ich mir vorzüglich von | |||||||
den drei biedern u: helldenkenden Männern, denen diese Schrift zugeeignet | |||||||
ist, so wie auch von dem Herrn Hofprediger Schultze, (welchem | |||||||
ich beiliegenden Brief übergeben zu laßen u: diesen gütigst mitzutheilen | |||||||
gantz gehorsamst bitte) wünschte u: wenn eine befriedigende in | |||||||
dieser Welt möglich ist, auch mit größter Zuversicht erwarte. Mein | |||||||
Freund Kosmann, von dem der zweite Brief ist, meint zwar, da | |||||||
die Biebel nur richtig verstanden werden dürffe, um ihr geheimnißvolles | |||||||
Dunkel gantz zu verlieren; allein dieses richtige Verstehn hat | |||||||
seine große Schwierigkeiten u: wenn man dieselbe nicht auf eine Art | |||||||
behandeln will, die kein Philosoph u: Philolog bei der Auslegung | |||||||
jedes andern Buches verzeihen würde; so bleibt sie wohl ein verschloßenes | |||||||
Buch. Er vertreibe mir doch z. B. den Teufel aus der | |||||||
Bibel, ohne Christum u: seine Iünger zu offenbaren Lügnern u: Betrügern | |||||||
zu machen! Das Zittern, Zagen u: blutigen Schweiß schwitzen | |||||||
am Oehlberg ist wahrhaftig auch einem göttlichen Gesandten eben | |||||||
nicht sehr anständig gewesen, wenn es nichts als Furcht war, was ihn | |||||||
quälte. Aldenn übertrafen seine Iünger ihren Meister weit bei der | |||||||
herannahenden u: wirklich eintretenden TodesGefahr. Auch wiederspricht | |||||||
sein Betragen bei seiner Kreutzigung gantz der Meinung, da | |||||||
er wohl aus Angst u: Furcht für seinem bevorstehenden schmerzhaften | |||||||
Tode eine solche unmännliche Rolle in Gethsemane gespielt haben | |||||||
könne, oder die gantzen Bücher sind listige Producte schlauer Betrüger. | |||||||
Und was kann erst die einige 100 Iahr darnach entstandene neuplatonische | |||||||
Philosophie für Einfluß auf die Abfaßung der Schriften des | |||||||
N. T. gehabt haben?? | |||||||
Im Fall Sie mich, so wie auch der Herr Hofprediger Schulze, | |||||||
einer Antwort würdigen wollen, (von welcher Sie glauben können, da | |||||||
sie bei mir gewiß nicht übel angewendet ist: denn ich suche bei allem | |||||||
was mir theuer u: heilig ist, nichts als Wahrheit u: sollte es | |||||||
auch die allertraurigste seyn, die ich fände; so kann sie unmöglich | |||||||
trauriger als meine Zweifel seyn) so bitte gehorsamst Ihre Antwort | |||||||
nach Niederstreith bei Striegau in Niederschlesien zu adreßiren, | |||||||
woselbst mein künftiger Auffenthalt seyn u: wovon ich Besitzer seyn | |||||||
werde. | |||||||
Ich verharre mit sehr großer Hochachtung als | |||||||
Ew: Wohlgebohren | |||||||
gantz gehorsamster Diener | |||||||
Carl v. Seidlitz. | |||||||
[ abgedruckt in : AA XI, Seite 294 ] [ Brief 489 ] [ Brief 491 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |