Kant: Briefwechsel, Brief 487, An Carl Leonhard Reinhold. |
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An Carl Leonhard Reinhold. | |||||||
Königsberg, d. 21. Sept. 1791. | |||||||
Wie können Sie mich, theuerster Mann, auch nur einen Augenblick | |||||||
in Verdacht haben, daß meine Unterlassungssünden, deren ich | |||||||
viele auf meiner Rechnung habe, irgend einer Abneigung, ja gar auch | |||||||
nur der mindesten Kaltsinnigkeit gegen Sie, die mir, wer weiß wer | |||||||
meiner bloß nachbetenden Anhänger, eingeflößt haben sollte, zuzuschreiben | |||||||
wären, da, wenn es auch nicht die Herzensneigung gegen | |||||||
einen so liebens= und hochachtungswürdigen Mann thäte, mich schon | |||||||
das Verdienst, welches Sie um die Aufhellung, Bestärkung und Verbreitung | |||||||
meiner geringen Versuche haben, zu Dankbarkeit verbinden | |||||||
müßte und ich mich selbst verachten würde, wenn ich an dem Spiele | |||||||
der Eifersucht und Rechthaberei im Felde der Speculation mehr | |||||||
Interesse nähme, als an den rechtschaffenen Gesinnungen der Mitwirkung | |||||||
zu Allem, was gut und selbstständig ist, wozu das volle Zutrauen | |||||||
und die Herzensvereinigung zwischen Wohldenkenden, selbst bei großer | |||||||
Verschiedenheit der Meinungen (welches zwischen uns doch der Fall | |||||||
nicht ist), nothwendig gehört. Ach, wenn es für uns ein Verhältniß | |||||||
der wechselseitigen Mittheilung durch den Umgang gäbe, welche Süßigkeit | |||||||
des Lebens würde es für mich seyn, mit einem Manne, dessen | |||||||
Geistes= und Seelenstimmung der seines Freundes Erhard gleichförmig | |||||||
ist, uns über das Nichts menschlicher Eitelkeit wegzusetzen und unser | |||||||
Leben wechselseitig in einander zu genießen? Aber nun durch Briefe! | |||||||
Lassen Sie mich Ihnen meine Saumseligkeit in Ansehung derselben, | |||||||
die Nachlässigkeit zu seyn scheint, aber es nicht ist, erklären. | |||||||
Seit etwa zwei Iahren hat sich mit meiner Gesundheit, ohne | |||||||
sichtbare Ursache und ohne wirkliche Krankheit (wenn ich einen etwa | |||||||
3 Wochen dauernden Schnupfen ausnehme), eine plötzliche Revolution | |||||||
zugetragen, welche meine Appetite in Ansehung des gewohnten täglichen | |||||||
Genusses schnell umstimmte, wobei zwar meine körperlichen Kräfte und | |||||||
Empfindungen nichts litten, allein die Disposition zu Kopfarbeiten, | |||||||
selbst zu Lesung meiner Collegien, eine große Veränderung erlitt. | |||||||
Nur zwei bis drei Stunden Vormittags kann ich zu den ersteren anhaltend | |||||||
anwenden, da sie dann durch eine Schläfrigkeit (unerachtet des | |||||||
besten gehabten Nachtschlafs, unterbrochen wird und ich genöthigt | |||||||
werde, nur mit Intervallen zu arbeiten, mit denen die Arbeit schlecht | |||||||
fortrückt und ich auf gute Laune harren und von ihr profitiren muß, | |||||||
ohne über meinen Kopf disponiren zu können. Es ist, denke ich, nichts, | |||||||
als das Alter, welches einem früher, dem andern später Stillstand | |||||||
auferlegt, mir aber desto unwillkommener ist, da ich jetzt der Beendigung | |||||||
meines Planes entgegen zu sehen glaubte. Sie werden, mein | |||||||
gütiger Freund, hieraus leicht erklären, wie diese Benutzung jedes | |||||||
günstigen Augenblicks in solcher Lage manchen genommenen Vorsatz, | |||||||
dessen Ausführung nicht eben pressant zu seyn scheint, dem fatalen | |||||||
Aufschub, der die Natur hat, sich immer selbst zu verlängern, unterwerfen | |||||||
könne. | |||||||
Ich gestehe es gern und nehme mir vor, es gelegentlich öffentlich | |||||||
zu gestehen, daß die auswärts noch weiter fortgesetzte Zergliederung | |||||||
des Fundaments des Wissens, sofern es in dem Vorstellungsvermögen | |||||||
als einem solchen überhaupt und dessen Auflösung besteht, ein großes | |||||||
Verdienst um die Critik der Vernunft sey, sobald mir nur das, was | |||||||
mir jetzt noch dunkel vorschwebt, deutlich geworden seyn wird; allein | |||||||
ich kann doch auch nicht, wenigstens in einer vertrauten Eröffnung | |||||||
gegen Sie nicht, bergen, daß sich durch die abwärts fortgesetzte Entwickelung | |||||||
der Folgen, aus den bisher zum Grunde gelegten Principien, | |||||||
die Richtigkeit derselben bestätigen und bei derselben, nach dem vortrefflichen | |||||||
Talent der Darstellung, welches Sie besitzen, gelegentlich in | |||||||
Anmerkungen und Episoden so viel von Ihrer tieferen Nachforschung | |||||||
anbringen lasse, als zur gänzlichen Aufhellung des Gegenstandes nöthig | |||||||
ist, ohne die Liebhaber der Critik zu einer so abstracten Bearbeitung | |||||||
als einem besonderen Geschäfte zu nöthigen und eben dadurch Viele | |||||||
abzuschrecken. - Dieses war bisher mein Wunsch, ist aber weder jetzt | |||||||
mein Rath, noch weniger aber ein darüber ergangenes und Anderen, | |||||||
zum Nachtheil Ihrer verdienstvollen Bemühungen, mitgetheiltes Urtheil. | |||||||
- Das Letztere werde ich noch einige Zeit aufschieben müssen, denn | |||||||
gegenwärtig bin ich mit einer zwar kleinen, aber doch Mühe machenden | |||||||
Arbeit, imgleichen dem Durchgehen der Critik der Urtheilskraft für | |||||||
eine zweite, auf nächste Ostern herauskommende, Auflage, ohne die | |||||||
Universitätsbeschäftigungen einmal zu rechnen, für meine jetzt nur geringen | |||||||
Kräfte mehr als zu viel belästigt uud zerstreut. | |||||||
Behalten Sie mich ferner in Ihrer gütigen Zuneigung, Freundschaft | |||||||
und offenherzigem Vertrauen, deren ich mich nie unwürdig bewiesen | |||||||
habe, noch jemals beweisen kann, und knüpfen Sie mich mit | |||||||
an das Band, welches Sie und Ihren lauteren, fröhlichen und geistreichen | |||||||
Freund Erhard, vereinigt, und welches die, wie ich mir | |||||||
schmeichle, gleiche Stimmung unserer Gemüther lebenslang unaufgelöst | |||||||
erhalten wird. | |||||||
Ich bin mit der zärtlichsten Ergebenheit und vollkommener Hochachtung | |||||||
etc. | |||||||
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