Kant: Briefwechsel, Brief 420, Von Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter. |
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| Von Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter. | |||||||
| Berlin den 20ten Aprill 1790. | |||||||
| Theuerster, bester Herr Professor, | |||||||
| Sie haben große Ursach mit mir sehr unzufrieden zu sein, da | |||||||
| ich so lange gezaudert habe, Ihnen Nachricht von mir und meiner Lage | |||||||
| zu ertheilen; aber ich bin zum voraus überzeugt, Sie werden mir mein | |||||||
| langes Stillschweigen vergeben, wenn Sie hören werden, daß Kränklichkeit | |||||||
| und gehäufte Geschäfte die Ursach davon sind. Ihr letzter Brief, | |||||||
| den ich durch HE. de la Garde erhalten habe, läßt mich vermuthen, | |||||||
| daß Sie den Brief, den ich Ihnen als Einlage durch ihn geschickt | |||||||
| habe, nicht erhalten haben. Herr la Garde aber versicherte mich, er | |||||||
| habe ihn abgeschickt und ihn in dem Aushängebogen I gelegt. | |||||||
| Meine Lage hat sich seit meinem letzten Briefe an Sie, gar sehr | |||||||
| geändert. Ich wohne jetzt in dem Hause des Ministers Grafen von | |||||||
| Schulenburg und bin der Gesellschafter seines 17jährigen Sohnes. Der | |||||||
| Minister ist ein vortreflicher Mann und sein Sohn überaus für mich | |||||||
| eingenommen und folgsam. Da der Minister mir diese Stelle antrug, | |||||||
| so habe ich die Bedingungen so gemacht, daß ich so wenig als möglich | |||||||
| von meiner Freiheit eingebüßt habe; ich kann so viel Vorlesungen | |||||||
| halten, als ich will; bin zu keinen Lehrstunden mit dem Grafen verpflichtet, | |||||||
| ich brauche ihn bei seinen Vergnügungen und in Gesellschaften | |||||||
| nicht zu begleiten, habe aber doch alle seine Vergnügungen zu bestimmen. | |||||||
| Der junge Graf ist zwar nur das einzige Kind, aber doch | |||||||
| nicht verzogen; der Minister hat keinen Ministerstolz und die Gräfin | |||||||
| mischt sich nicht in meine Angelegenheiten. Ich habe vollkommen freie | |||||||
| Station, das Gehalt ist aber noch nicht bestimmt, wahrscheinlich 150 | |||||||
| oder 200 rthlr. | |||||||
| Was mich aber noch weit unabhängiger vom Minister macht, ist, | |||||||
| daß ich Lehrer der königlichen Prinzen Heinrich und Willhelm und der | |||||||
| Prinzessin Auguste geworden bin. Der Prinz Heinrich und die Prinzessin | |||||||
| Auguste erhalten wöchentlich jeder 3 Stunden in der physischen | |||||||
| Geographie, der Prinz Willhelm nach meinem Willen 2 auch 3 Stunden | |||||||
| in der Arithmetik. Der Gehalt ist vom Könige noch nicht bestimmt, | |||||||
| wird aber in einigen Wochen bestimmt werden. Ich glaube auf diese | |||||||
| Art am ersten dereinst unabhängig leben zu können, da mit dem | |||||||
| Unterricht der königlichen Kinder gewöhnlich eine lebenslängliche | |||||||
| Pension verknüpft ist. Prinz Heinrich ist ein aufgeweckter Kopf und | |||||||
| sehr lernbegierig, Prinz Willhelm ist noch ganz Kind und die Prinzessin | |||||||
| Auguste hört mich mit Aufmerksamkeit an. - Man arbeitet | |||||||
| jetzt daran, mir wo möglich, den Unterricht des Prinzen Louis in der | |||||||
| Philosophie zu verschaffen. | |||||||
| Diese Verbindung mit dem Hofe habe ich größtentheils der Baronesse | |||||||
| von Bielefeld, der Oberhofmeisterin der Prinzessin Auguste zu | |||||||
| danken, der ich Privatvorlesungen über die Anthropologie halte; der | |||||||
| Kanzler von Hoffmann hat auch das Seinige dazu beigetragen. Was | |||||||
| werden Sie aber sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß eine junge, schöne | |||||||
| Dame, den das ist die Baronesse von Bielefeld, es wagt, in die Geheimnisse | |||||||
| Ihres Systems einzudringen, daß sie den Unterschied der | |||||||
| analytischen und synthetischen Urtheile, der Erkenntnisse a priori und | |||||||
| a posteriori , die Theorie von Raum und Zeit, sich nicht blos hat vortragen | |||||||
| laßen, sondern wirklich gefaßt hat. Noch mehr aber werden | |||||||
| Sie sich wundern, wenn ich Ihnen sage, daß sie sich nicht mit der | |||||||
| Philosophie beschäftigt, um dadurch zu glänzen, denn sie ist über alle | |||||||
| Vorstellung bescheiden, und bei unserm Hofe glänzt man durch Philosophie | |||||||
| nicht; daß sie keins ihrer Geschäfte über das Studium der | |||||||
| Philosophie versäumt. | |||||||
| Meine Vorlesungen über die Logik habe ich vor ungefähr 6 Wochen | |||||||
| geschlossen, und die über die Critik der praktischen Vernunft denke ich | |||||||
| in 14 Tagen zu schließen. Ich werde diesen Sommer 2 Stunden | |||||||
| in der Woche ein Colleg. privatissimum über die reine Mathematik | |||||||
| und 2 Stunden eins über die Critik der reinen Vernunft lesen. | |||||||
| Der erste Theil meiner Schrift über das Moralprinzip wird diese | |||||||
| Woche fertig, und ich denke künftige Woche das Vergnügen zu haben | |||||||
| Ihnen und dem Herrn Prof. Krause ein Exemplar zu überschicken. | |||||||
| Ich habe den ersten Theil dem Könige dedicirt, und werde ihm noch | |||||||
| vor Ende der Woche das Exemplar übersenden. Der Druck Ihrer | |||||||
| Schrift wird auch gegen das Ende dieser Woche fertig. | |||||||
| Der Herr Kanzler von Hoffmann ist vor 14 Tagen nach Halle | |||||||
| zurückgereist, und hat mir aufgetragen, Ihnen seine unbegrenzte Achtung | |||||||
| zu bezeigen. Er wird ungefähr 6 Wochen in Halle bleiben und dann | |||||||
| mit seiner Gemalin eine Reise nach der Schweiz und Italien machen | |||||||
| um seine Gesundheit herzustellen. | |||||||
| Mein Vorsatz Sie, theuerster Herr Professor, in den Hundstagsferien | |||||||
| zu besuchen, steht unerschüttert fest, ich habe mir die Erlaubniß | |||||||
| zu dieser Reise sowohl beim Minister als bei Hofe ausbedungen. | |||||||
| Ich denke 14 Tage in Königsberg zu bleiben, und wünsche nichts | |||||||
| mehr, als daß Sie mir sodann erlauben möchten, mich mit Ihnen über | |||||||
| einige Dinge zu unterreden. | |||||||
| Professor Selle hat eine Abhandlung gegen Ihr System in der | |||||||
| Akademie vorgelesen, und wird sie auch drucken laßen, er glaubt, wie er | |||||||
| sagt, Ihrem System dadurch den Todesstoß gegeben zu haben. So viel | |||||||
| ich gehört habe, so zweckt sein Hauptargument dahin, daß gesetzt auch, | |||||||
| Sie hätten bewiesen R[aum] und Z[eit] wären die Formen unserer Sinnlichkeit, | |||||||
| Sie doch nicht zeigen könnten, daß sie nur Formen der Sinnlichkeit | |||||||
| wären, weil es immer doch möglich sei, sich zu denken, daß R. | |||||||
| und Z. den Dingen an sich zukämen, welches Sie um so weniger leugnen | |||||||
| könnten, da Sie selbst behaupteten, man könne von den Dingen an | |||||||
| sich nichts wissen, und es daher ganz wohl möglich sei, daß R. und Z. | |||||||
| den Dingen an sich selbst zukämen. Überdis könne man auf die Art | |||||||
| allein die Frage beantworten, warum wir grade in diesen und keinen | |||||||
| andern Formen anschauten? Seiner Meinung nach wären R. und Z. | |||||||
| zwar subjektiv nothwendige Bedingungen unserer Anschauungen, aber | |||||||
| es correspondiren ihnen demungeachtet auch Eigenschaften der Dinge | |||||||
| an sich. - Sollte es wahr sein, daß der ganze Einwurf nichts wichtigers | |||||||
| enthält, so finde ich ihn eben so schreckhaft nicht. Wodurch | |||||||
| will Herr S. beweisen, daß R. und Z. den Dingen an sich selbst zukommen? | |||||||
| Und giebt er zu, daß R. und Z. Formen der Sinnlichkeit | |||||||
| sind, wie will er behaupten, daß sie doch von den Dingen an sich abhingen; | |||||||
| denn werden sie uns durch die Objecte gegeben, so gehören sie | |||||||
| ja sodann zur Materie der Anschauung und nicht zur Form derselben. | |||||||
| So bald die Schrift erscheint, werde ich das Vergnügen haben Ihnen | |||||||
| ein Exemplar zu übersenden. | |||||||
| Ietzt gehn hier sonderbare Dinge vor. Der König hat sich vergangenen | |||||||
| Sonntag vor 8 Tagen auf dem hiesigen Schlosse in einem | |||||||
| seiner Zimmer mit der Gräfin von Dehnhof trauen laßen. Die größte | |||||||
| Wahrscheinlichkeit, für mich beinahe Gewisheit, ist daß Zöllner die | |||||||
| Trauung verrichtet hat. Gegenwärtig waren Minister Wöllner und | |||||||
| der Herr von Geysau auf Seiten des Königs; die Mutter und Schwester | |||||||
| der Gräfin und ihr Stiefbruder (oder Cousin das habe ich vergessen) | |||||||
| auf Seiten der Braut. Der König kam den Sonnabend Abend von | |||||||
| Potsdam hieher und die Trauung ging Sonntag Abend um 6 Uhr | |||||||
| vor sich. Die Gräfin war (wie eine Romanheldin) weiß gekleidet, mit | |||||||
| fliegendem Haar. Sie hält sich jetzt in Potsdam auf. Man vermuthet, | |||||||
| daß der Kurfürst von Sachsen, sie in den Reichsfürstenstand wird erheben | |||||||
| müssen. Die Gräfin war vorher Hofdame bei der regierenden | |||||||
| Königin. Schon beinahe ein Iahr hindurch stand der König mit ihr | |||||||
| in Unterhandlungen, sie nahm sich hingegen so, daß man im Publiko | |||||||
| nicht wußte, ob sie dem Könige Gehör gab oder nicht. Vor 14 Tagen | |||||||
| ungefähr kömmt ihre Mutter, wie die Gräfin verbreitet hatte, auf ihre | |||||||
| Bitte um sie nach Preußen mitzunehmen. Die Gräfin nimmt öffentlich | |||||||
| am Hofe Abschied. Die regierende Königin schenkt ihr ein Paar | |||||||
| brillantne Ohrgehänge und läßt ihr sagen; sie würde am besten wissen, | |||||||
| ob sie sich ihrer dabei erinnern dürfe. Iedermann glaubt sie abgereist, | |||||||
| als die Trauung geschieht. Die Königin hat die Sache mit ziemlicher | |||||||
| Ruhe angehört. Was ich bis jetzt erzählt habe, ist die genauern | |||||||
| Nebenumstände abgerechnet beinahe jedermann bekannt; und es macht | |||||||
| im Publiko gewaltige Sensation. Zöllners Zulauf in seinen Predigten | |||||||
| hat sich vermindert und selbst bei einer Introduction, die er neulich | |||||||
| gehalten hat, und wo sonst hier alles zuströmt ist die Kirche leer gewesen. | |||||||
| - Folgendes wissen wohl nur wenige Personen. Es ist eine | |||||||
| Scheidung des Königs und der Königin vorhanden, die mit ihrer Einwilligung | |||||||
| zur Zeit der Unterhandlungen mit der verstorbenen Ingenheim | |||||||
| aufgesetzt ist; der König hat sich aller ehelichen Rechte begeben, | |||||||
| und die Königin hat blos die Honneurs behalten. Doktor Brown hat | |||||||
| sie für gestört erklärt, und es ist dis in der That auch sehr wahrscheinlich, | |||||||
| da dieser Zufall ein Familienfehler ist. Sie tanzt oft auf | |||||||
| Tisch und Stühle herum, und sieht Geister. Wie unglücklich würde | |||||||
| unser Staat dereinst sein, wenn sich dieser Fehler auch auf ihre Kinder | |||||||
| fortgepflanzt hätte. | |||||||
| Die Kriegsrüstungen gehen hier immer noch fort. Das Merkwürdigste | |||||||
| aber ist, daß nicht das Ministerium, sondern der König den | |||||||
| Krieg wünscht. Man trägt sich hier mit folgendem Plan im Publiko: | |||||||
| Unsere Armee wird sich in 4 Corps theilen, das erste geht unter Anführung | |||||||
| des Königs, unter dem Möllendorf kommandiren wird, gegen | |||||||
| die Oestreicher, das zweite unter Anführung des Herzogs von Braunschweig | |||||||
| gegen die Russen, Prinz Friedrich kommandirt das Observationskorps | |||||||
| gegen die Sachsen, und dann soll noch ein sogenanntes | |||||||
| fliegendes Corps statt haben. Was Sachsen betrift, so erzählt man, | |||||||
| es habe noch bei Lebzeiten des verstorbenen Kaisers der Gesandte | |||||||
| desselben am sächsischen Hofe um eine Privataudienz beim Kurfürsten | |||||||
| angehalten, die ihm auch bewilligt worden; in dieser fragte er den | |||||||
| Kurfürsten, wie er sich, wenn es mit Preußen zu einem Kriege käme, | |||||||
| nehmen würde, und dieser antwortete: er werde neutral bleiben. Der | |||||||
| Gesandte ergrif begierig diese Antwort und bat den Kurfürsten sie | |||||||
| ministeriel zu machen. Dis hat der Marchese Lucchesini glücklich verhindert, | |||||||
| doch hat der Kurfürst die Antwort einmal mündlich gegeben. | |||||||
| Man wird also durch eine Armee den Kurfürsten nöthigen, auf unsere | |||||||
| Seite überzutreten. | |||||||
| Da ich den Brief schliessen will, fällt mir ein, daß Sie, theuerster | |||||||
| HE. Professor mit dem morgenden Tage Ihr 67 Iahr antreten. Niemand | |||||||
| nimmt gewiß herzlichern Antheil daran als ich; niemand hegt | |||||||
| gewiß einen aufrichtigern Wunsch, Sie noch lange der Welt erhalten | |||||||
| zu sehen als ich, der ich in Ihnen meinen zweiten Vater verehre. | |||||||
| Dem Herrn Prof. Krause, Ihrem vortreflichen Freunde, machen | |||||||
| Sie meine beste Empfehlung, und da ich von seiner Güte überzeugt | |||||||
| bin, daß er sich für mich interessirt, so haben Sie die Gewogenheit, | |||||||
| ihm die Veränderung meiner Lage bekannt zu machen. Auch d. H. | |||||||
| Iachmann grüßen Sie in meinem Namen, und sagen Sie ihm, da | |||||||
| ich eine Antwort auf meinen letzten Brief von ihm erwarte. | |||||||
| Verzeihen Sie mir, daß ich schon wieder einen so langen Brief | |||||||
| geschrieben habe, der vielleicht so wenig Interesse für Sie hat. Der | |||||||
| Minister von Schulenburg, die Baronesse von Bielefeld, HE. Hofrath | |||||||
| Herz haben mir aufgetragen, Sie ihrer Achtung zu versichern. Ich | |||||||
| bin mit der wärmsten Hochachtung | |||||||
| Ihr | |||||||
| innigster Verehrer | |||||||
| I. G. C. Kiesewetter. | |||||||
| N. S. Aus meinem letzten Briefe haben Sie die Geschichte des vom | |||||||
| O[ber] C[onsistorium] verworfenen Catechismus ersehen; jetzt arbeitet | |||||||
| HE. Silberschlag und der Prediger Hecker einen alten | |||||||
| Catechismus um, der den verstorbnen Inspektor Hecker zum Verfasser | |||||||
| hat, und eine Compilation von theologischem Unsinn enthält. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 155 ] [ Brief 419 ] [ Brief 421 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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