Kant: Briefwechsel, Brief 419, An Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter.      
           
  Königsberg d. 20sten April 1790.      
           
  Daß Ihren den 3ten Märtz datirten, mir sehr angenehmen Brief,      
  auf welchen Sie überdem eine eilige Antwort erwarteten, so spät beantworte,      
  ist wirklich nicht meine Schuld - Denn ich habe ihn allerst      
  vorgestern zu sehen bekommen. Die Ursache davon ist diese. HE.      
  Delagarde hatte den 10 Märtz ein Pak Probebogen, die bis N reichten,      
  von Berlin an mich abgehen lassen, welches denn nach etwa 10 Tagen      
  an mich gelangete. Ich fing an sie durchzugehen, (wegen der Druckfehler)      
  aber es war mir nach gerade verdrieslich und schob es also      
  auf, bis ich mehr derselben bekommen haben würde, um es auf einmal      
  abzumachen. Bald darauf schickte er mir durch seinen Bruder      
  die Bogen V und X und meldete zugleich: daß die dazwischen fehlende      
  (von O bis T) an Hr Prof. Michelsen abgegeben worden, der sie (mit      
  einem mir zugeschriebenen Buche) an mich schon würde haben gelangen      
           
  lassen. Allein diese erhielt ich allererst vor 4 Tagen, mit einem Briefe      
  von gedachtem Hrn. Professor d. d. den 5ten April. Den Tag nach dem      
  Empfang, nämlich den vorigen Sonntag Morgens, nahm ich nun jene      
  mir schon im Märtz zugeschickte Bogen vor, um sie wegen etwaniger      
  Drukfehler durchzusehen und, als ich an den Bogen N kam, fiel Ihr      
  Brief heraus, den Sie sorgfältig zwischen die Blätter gesteckt hatten.      
  Sie können glauben, daß es mich nicht wenig befremdete und verdroß,      
  Ihnen, obzwar ohne meine Schuld, ein unangenehmes und vergebliches      
  Warten verursacht zu haben. - Aber, lieber Freund, warum geben      
  Sie Ihre Briefe an mich, die ich jederzeit mit Vergnügen empfange,      
  nicht, wie ich gebeten habe, und zwar unfrankirt auf die Post? Diese      
  kleine Ausgabe, die ohnedem doch nicht eben so oft kommen kan, achte      
  ich nicht. - Was die von mir verlangte Bemerkungen zu der zweyten      
  Auflage Ihrer Schrift von dem ersten Grundsatze etc betrifft, so ist ohne      
  Zweifel jetzt dazu schon die Zeit verflossen; es müßte denn seyn, da      
  diese Auflage nicht zur Ostermesse herauskommen sollte, worüber ich      
  dann Nachricht erwarten würde.      
           
  Ich lege hier einen Aufsatz von den gefundenen Druckfehlern,      
  auch einen Auslassungsfehler, bey, welche vielleicht noch dem Werke      
  angehängt werden können. Für die, so sie selbst geändert haben, dancke      
  ich sehr. Aber ich wünschte, daß der Schreibefehler (Dritter Abschnitt      
  der Analytik der ästhetischen Urtheilskraft) von mir wäre bemerkt und      
  dieser Titel ganz weggestrichen worden; Sonst haben sie freylich ihn      
  ganz schicklich in den: Drittes Buch Deduction etc. verändert. Aber      
  da müßte dieses nun auch auf der Tafel der Eintheilung, die der      
  Vorrede, oder vielmehr der Einleitung, angehängt wird, ebenso abgeändert      
  werden. Ist es aber noch Zeit, so bitte ich den von ihnen      
  geänderten Titel hinten unter die Drukfehler zu bemerken      
  und die Tafel der Eintheilung so wie sie aufgesetzt ist und      
  die vom ersten Abschnitt nur 2 Bücher nennt abdrucken zu      
  lassen. Ich zweifle aber, daß dieses noch zur rechten Zeit ankommen      
  werde - Wenn nur die verzweyfelte Irrung mit dem Briefe nicht      
  vorgefallen wäre.      
           
  Wegen Ihrer letzten Fragen merke ich nur an: daß das Criterium      
  eines ächten Moralprincips allerdings die unbedingte practische Nothwendigkeit      
  sey, wodurch es von allen anderen practischen Principien      
  sich gänzlich unterscheidet. 2 tens daß die Möglichkeit der Freyheit,      
           
  wenn sie vor dem moralischen Gesetze betrachtet wird (in der Critik      
  der reinen Vernunft), nur den transscendentalen Begrif der Caussalität      
  eines Weltwesens überhaupt bedeutet (ohne darunter besonders die      
  durch einen Willen anzeigen zu wollen), so fern sie durch keine Gründe      
  in der Sinnenwelt bestimmt wird und daß daselbst nur gezeigt wird,      
  daß sie keinen Wiederspruch enthalte. Nun wird durchs moralische      
  Gesetz jene transscendentale Idee realisirt und an dem Willen,      
  einer Eigenschaft des vernünftigen Wesens (des Menschen), gegeben, weil      
  das moralische Gesetz keine Bestimmungsgründe aus der Natur (dem      
  Inbegriffe der Gegenstände der Sinne) zuläßt und der Begriff der      
  Freyheit, als Caussalität, wird bejahend erkannt, welcher ohne einen      
  Cirkel zu begehen mit dem moralischen Bestimmungsgrunde reciprocabel      
  ist. Ich wünsche gute Besserung, rathe vor allen Dingen Zerstreuung      
  und Aufschub von Arbeiten an und beharre      
           
    Ihr treuer Freund und Diener      
    I. Kant.      
           
           
           
     

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