Kant: Briefwechsel, Brief 356, Von Ernst Ferdinand Klein.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Ernst Ferdinand Klein.      
           
  23. April 1789.      
           
  Wohlgebohrner Herr      
  Hochzuehrender Herr Professor      
  Ein philosophischer Streit mit meinem Freunde dem Herrn Pr.      
  Garve hat die kleine Schrift, die ich mir die Ehre gebe, Ew. Wohlgebohren      
  zu übersenden, veranlaßt und mich genöthiget, den Grundsätzen      
           
  der Moral nach zu forschen. Ihre moralischen Grundsätze haben mich      
  zu Ihrem Anhänger gemacht. Zwar unterstehe ich mich noch nicht,      
  über Ihr ganzes philosophisches System ein Urtheil zu fällen. Ich      
  hatte zwar die verwichnen Erndte=Ferien dem Studio Ihrer Kritik      
  der reinen Vernunft gewidmet; aber meine Geschäfte riefen mich eher      
  in die Stadt, als ich es vermuthete, und ich habe also diese wichtige      
  Lektüre stückweise in den wenigen Augenblicken, welche mir meine Geschäfte      
  übrig lassen, vollenden müssen. Daraus habe ich so viel gelernt,      
  daß ich die wunderlichen Begriffe, die sich manche von Ihrem System      
  machen, wiederlegen kann, und ich habe mir selbst daraus ein System      
  gebildet, wovon ich jedoch nicht mit Gewisheit weiß: ob es mit dem      
  Ihrigen überall übereinstimmt. Könnte ich diesen Sommer 4 Wochen      
  zu meiner Disposition haben, so würde es mir vielleicht gelingen, den      
  Geist Ihrer Philosophie ganz zu fassen.      
           
  Inzwischen scheint mir die Richtigkeit Ihrer praktischen Grundsätze      
  so einleuchtend zu seyn, daß ich sie angenommen habe, ehe ich mit      
  Ihrer Critik der reinen Vernunft bekannt geworden bin. Ich bin      
  sehr frühzeitig auf den Gedanken gekommen, daß die Moral von der      
  Theologie nicht abhängig seyn könne. Ich habe in meinem Vaterlande      
  von Kindheit an viele Menschen kennen gelernt, die besser dachten und      
  handelten, als es die Lehren ihrer Kirche mit sich brachten, und die      
  sich, ohne gelehrt zu seyn, schlechtweg auf die Aussprüche der gesunden      
  Vernunft beriefen; in dem sie kurzweg sagten: Man müßte ja ein      
  Taugenichts seyn, wenn man anders handeln wollte. Dieß fiel mir      
  so auf, daß ich auch nachher bey Erziehung meiner Kinder immer von      
  dem Grundsatze ausgegangen bin: werde kein Taugenichts! oder      
  welches eben so viel ist: Handle der Würde Deiner Natur gemäß!      
           
  Längst hatte ich auch im Naturrechte den Grundsatz angenommen:      
  Nur der, welcher die Freyheit anderer stört, kann durch Zwang davon      
  zurückgehalten werden. Dieser Grundsatz gründet sich auf die Gleichheit      
  der Rechte und also auf die Würde der menschlichen Natur. Mein      
  System des Naturrechts verträgt sich also mit keinem besser, als dem      
  Ihrigen.      
           
  Ich wünschte, daß Ew. Wohlgebohren die überschickte kleine Schrift      
  einiger Aufmerksamkeit würdigten und mir, wenn es ohne Nachtheil      
  Ihrer gemeinnützigen Arbeiten geschehen kann, Ihre Gedanken darüber      
  gelegentlich eröffneten. Geben Sie sich nicht erst die Mühe Ihren      
           
  Tadel zu verstecken. Eine freymüthige Kritik ist mir lieber, als wenn      
  man mich nach Art eines Kindcs behandelt, dem man die bittere Arzney      
  unter der Gestalt eines süßen Naschwerks beybringt.      
           
  Männer von entschiednen Verdiensten haben auch das Recht entscheidend      
  zu sprechen, und wer die Wahrheit liebt, mißt seine Achtung      
  gegen sie nicht nach dem Grade der Bereitwilligkeit ab, mit welcher sie      
  sich ihm zu nähern scheinen. Wie also auch Ihr Urtheil über meine      
  kleine Schrift ausfallen mag, so wird dieß nichts in der Hochachtung      
  verändern, mit welcher ich beständig seyn werde      
           
    Ew. Wohlgebohren      
  Berlin ergebenster Diener      
  den 23 April Klein      
  1789 Kammergerichtsrath      
           
           
           
     

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