Kant: Briefwechsel, Brief 352, Von Salomon Maimon.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Salomon Maimon.      
           
  7. April 1789.      
           
  Verehrungswürdiger Mann!      
  Durchdrungen von der Ehrfurcht, die man einem Manne schuldig      
  ist, der die Philosophie u. vermittelst derselben, jede andre Wißenschaft,      
  reformirt hat; war es einzig, Liebe zur Wahrheit, durch die ich dreist      
  gnug haben werden können, mich Ihnen zu nähern. - Schon durch      
  Geburth bestimmt, die besten Iahre meines Lebens in den litthauischen      
           
  Wäldern, entblößt von jedem Hülfsmittel zur Erkenntniß der Wahrheit,      
  zu verleben, war es Glük genug für mich endlich nach Berlin      
  zu gelangen, obschon zu spät. Hier bin ich durch die Unterstützung      
  einiger edelgesinnten Männer in den Stand gesetzt worden, den Wißenschaften      
  obzuliegen; und es war, dünkt mich, natürlich, daß in dieser      
  Lage, die eifrige Begierde meinen Hauptzwek, die Wahrheit zu erreichen,      
  mich jene Untergeordneten als: Sprachkenntniß, Methode      
  u: s: w: einigermaaßen hintansetzen ließ. Daher durfte ich es lange      
  nicht wagen, der jetzigen im Geschmak so difficilen Welt etwas von      
  meinen Gedanken öffentlich vorzulegen, obschon ich besonders mehrere      
  Systeme der Philosophie gelesen, durchdacht, u. zuweilen etwas Neues      
  drinn gefunden habe. Endlich war mir das Glük noch aufbehalten,      
  Ihre unsterbliche Werke zu sehen, zu studiren, und meine ganze      
  Denkungsart nach dieselben umzubilden. Ich habe mich äußerst bemühet      
  die letzte Resultate aus diesen Werken zu ziehen, sie meinem      
  Gedächtniß einzuprägen, dann die Spuren des drinn herrschenden      
  Ideenganges aufzusuchen, um so gleichsam in den Geist des Verf:      
  einzudringen. Ich habe mir zu diesem Zweke, die Resultate, so wie      
  ich sie mir begreiflich gemacht habe, schriftlich aufgesetzt, u. einige      
  Anmerkungen hinzugefügt, die hauptsachlich nur folgende Punkte betreffen.      
       
           
  1.) den Unterschied den Sie zwischen den analytischen und Synthetischen      
  Sätzen angeben, u. die Realitaet der Letzren.      
           
  2.) Die Frage Quid Juris ? Diese Frage war durch ihre Wichtigkeit      
  eines Kants würdig; u. giebt man ihr die Ausdehnung      
  die Sie ihr selbst gegeben, fragt man: Wie läßt sich mit Gewißheit      
  etwas a priori auf etwas a posteriori appliciren? So ist      
  die Beantwortung oder Deduction die Sie uns in Ihren Schriften      
  gegeben, wie die eines Kants seyn kann, völlig befriedigend.      
  Will man aber die Frage weiter ausdehnen, fragt man: Wie      
  läßt sich ein Begriff a priori auf eine Anschauung ob schon auf      
  eine Anschauung a priori , appliciren? So muß die Frage freylich      
  den Meister noch einmal erwarten, um befriedigend beantwortet      
  zu werden.      
           
  3.) Eine neue bemerkte Art von Ideen, die ich VerstandesIdeen      
  nenne, und die ebenso auf die materielle Totalitaet hindeuten,      
  wie die von Ihnen bemerkte VernunftsIdeen auf die      
           
  formelle Totalitaet. Ich glaube hiedurch eine neue Aussicht      
  zur Beantwortung der erwähnten Frage Quid Juris? eröffnet      
  zu haben.      
           
  4.) Die Frage Quid facti ? - Diese scheinen Sie blos berührt zu      
  haben; da es mir doch des Humeschen Zweifels wegen wichtig      
  scheint, sie befriedigend zu beantworten.      
           
  Diese Anmerkungen machen nun kürzlich den Innhalt des Mscpts      
  aus, das ich Ihnen vorzulegen wage. Meine zu gütigen Freunde      
  dringen schon lange in mich diese Schrift bekannt zu machen, allein      
  nie wollte ich ihnen hierin willfahren, ohne sie Ihrem mir unschätzbaren      
  Urtheil unterworfen zu haben. Findet sie ein Kant seiner Bemühung      
  nicht ganz unwürdig; so wird er gewiß dem der sich ihm      
  ehrerbietig nähert nicht verachten. Er wird ihm antworten, wird ihn      
  belehren, wo er geirrt, oder ihm seinen Beyfall bezeigen, wenn er ihn      
  deßen würdig finden sollte, u. ihn dadurch doppelt glüklich machen.      
           
    Ihr ganz ergebener Diener      
  Berlin den 7t. April 1789. u. Verehrer      
    Salomon Maymon      
           
           
           
     

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