Kant: Briefwechsel, Brief 351, Von Marcus Herz.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Marcus Herz.      
           
  7. April 1789.      
           
  Verehrungswürdiger Mann      
  Unvergeßlicher Lehrer      
  Herr Salomon Maymon, der Ihnen mit der fahrenden Post ein      
  Manuscript zuschickt, welches scharfsinnige Reflexionen über das Kantische      
  System enthält, ersucht mich seinen gegenwartigen Brief mit einer      
  Empfehlung an Sie zu begleiten; und ich sehe die Gelegenheit die er      
  mir verschafft, meinen unvergeßlichen Lehrer, wiederum einmal meiner      
  Hochachtung versichern zu können, als eine sehr erwünschte an. Leider      
  bin ich Ihrer Schule so entartet, daß ich die erste beste solche Gelegenheit      
  aufgreifen muß, und nicht im Stande bin öfter durch Ausübung      
  der Seelenkräfte die Sie so treflich in mir anlegten, Ihnen zu      
  zeigen, daß ich es auch würdig bin Sie hoch zu achten! Ich bin in      
  der praktischen Sphäre, die sich täglich mehr und mehr um mich erweitert      
  ganz verstrickt, und sie macht mir es leider physisch und moralisch      
  unmöglich, an jenen süßen erhabenen Spekulationen, mit denen      
  Sie jezo die Welt so sehr beglüken, die den Menschen so ganz sich      
  und seinen Werth fühlen lassen, und die für mich den mächtigsten      
  Reitz haben, so recht warmen Antheil zu nehmen! Sie stehen beständig      
  mir vor Augen Ihre unsterblichen Werke, ich lese fast täglich darin,      
  unterhalte mich fleißig mit meinen Freunden darüber; aber das System      
  so ganz zu umfassen, es zu durchdringen, dazu hat mich leider mein      
  praktisches Leben völlig unfähig gemacht, und, Ihnen kann ich es gestehen,      
           
  der Gedanke an dieser Unfähigkeit trügt manche Stunde      
  meines Lebens.      
           
  Herr Salomon Maymon, ehedem einer der rohesten polnischen Iuden,      
  hat sich seit einigen Iahren durch sein Genie, seinen Scharfsin und      
  Fleiß auf eine außerordentliche Weise in fast alle höhere Wissenschafften      
  hineingearbeitet, und vorzüglich in den letzten Zeiten Ihre Philosophie      
  oder wenigstens Ihre Art zu philosophiren so eigen gemacht, daß ich      
  mit Zuverläßigkeit mir zu behaupten getraue, daß er einer von den      
  sehr sehr wenigen von den jezigen Bewohnern der Erde ist, die Sie      
  so ganz verstanden und gefaßt. Er lebt hier sehr kümerlich, unterstüzt      
  von einigen Freunden, ganz der Spekulation. Er ist auch mein      
  Freund, und ich liebe und schätze ihn ungemein. Es geschah auf      
  meine Veranlassung, daß er diese Aufsätze die er zum Druck bestimmt,      
  vorher Ihnen zur Durchsicht überschickt. Ich nahm es über mich Sie      
  zu bitten, die Schrift anzusehen, ihm Ihre Meynung darüber mitzutheilen,      
  und wenn Sie sie des Druckes würdig finden, in einigen      
  Zeilen es der Welt zu sagen. Ich kenne die Dreistheit dieser Bitte      
  in ihrem ganzen Umfange: aber Gottlob ich kenne auch den Mann      
  den ich bitte.      
           
  Wie leben Sie verehrungswürdiger Mann? wie steht es mit      
  Ihrer Gesundheit? Strengen Sie auch in Ihrem Alter Ihre Kräfte      
  nicht zu sehr an? Gott wenn ich doch in diesem Leben des Glückes      
  noch einmal theilhaft werden könnte, diese und noch unzählige andere      
  Fragen mündlich von Ihnen beantwortet zu hören. Ich verharre      
  Meines unvergesslichen Lehrers      
           
  Berlin den 7 t April ganz ergebenster Diener      
  1789. Marcus Herz      
           
           
           
     

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