Kant: AA XIX, Erläuterungen zu G. Achenwalls Iuris ... , Seite 636

     
           
 

Zeile:

 

Text:

 

 

 

 
    8091.   ψ4. (1788--1790.)   L Bl. Kiesewetter 4.   R.-Sch. XI 1 S. 267f. Hb. IV S. 504f. Ki. u. L. S. 198f.
 
     
  03 Ueber particuläre Providenz.      
           
  04 Wir können uns keine Einrichtung nach Zwecken als bei dem Zufälligen      
  05 denken; folglich kann die göttliche Vorsehung sich nur beim Zufälligen      
  06 beweisen, und es ist ungereimt, sie auf das Nothwendige auszudehnen.      
  07 Es entsteht nun die Frage: Sorgt Gott blos für das Allgemeine      
  08 oder auch für das Besondere? Wir nehmen die Frage in dem Sinn: Hat      
  09 Gott nur blos einen großen allgemeinen Zweck, dem Alles untergeordnet      
  10 seyn muß, oder hat er sich mehrere einzelne Zwecke vorgesetzt, die zusammengenommen      
  11 einen Zweck ausmachen?      
           
  12 Man muß die erste Frage bejahen, die andere verneinen; denn ich      
  13 kann es mir nicht vorstellen, wie mehrere Zwecke zusammengenommen      
  14 einen ausmachen; unsere Vernunft geht vielmehr den entgegengesetzten      
  15 Weg und nimmt eins an, von dem sie auf mehrere heruntersteigt; dessen      
  16 ungeachtet können mehrere Beschaffenheiten als zweckmäßig gedacht werden,      
  17 ohne doch wegen eines besonderen Zweckes da zu seyn. Alles, was in der      
  18 Welt geschieht, muß Zwar dem großen alleinigen Zweck nicht entgegen      
  19 seyn; allein ich kann mir nicht vorstellen, daß es selbst wieder eines besondern      
  20 Zweckes wegen da sey; denn nähme man das Letztere an, so würde      
  21 man in große Verwirrung gerathen, weil nicht blos der Willkür zu viel      
  22 überlassen bleibt, sondern auch eine Sache um mehrerer Zwecke willen da      
  23 seyn würde, welches unmöglich ist, da ein Zweck den zureichenden Grund      
  24 eines Dinges enthalten muß, und ein Grund doch nicht mehr als zureichend      
  25 seyn kann.      
           
  26 Z. B. die Luft ist zum Leben nothwendig; sieht man nun das Leben      
  27 der Geschöpfe als den Zweck der Luft an, so wird dies als der zureichende      
  28 Grund derselben gedacht. Die Luft dient aber auch zum Sprechen; doch      
  29 muß man nicht sagen, das Sprechen sey der Zweck derselben; denn sonst      
  30 würde sie zwei zureichende Gründe haben. Die Luft ist zum Sprechen      
  31 zweckmäßig; das heißt aber keineswegs, das Sprechen sey der Zweck der      
  32 Luft, weil dies sagen würde, das Sprechen sey der zureichende Grund,      
  33 weshalb die Luft geschaffen sei. Sehr oft meint man, es seyen Dinge als      
  34 Mittel zu Zwecken hervorgebracht, die offenbar blos mechanischen Ursprungs      
     

[ Seite 635 ] [ Seite 637 ] [ Inhaltsverzeichnis ]