Kant: AA XI, Briefwechsel 1794 , Seite 518 |
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| 01 | und wäre so gefühllos wie die Feder mit der ich schreibe, wenn nicht | ||||||
| 02 | Trähnen des innigsten Dankes in meinen Augen die Achtung und | ||||||
| 03 | Liebe bezeugten, welche einem so großen Manne einer so großen Freundschaft, | ||||||
| 04 | und einer so großen Theilnahme an mein Glück gebührt. | ||||||
| 05 | Es ist jetzt über ein Iahr, das ich in London mit einem nicht | ||||||
| 06 | eben sehr günstigen Schicksal kämpfen mußte. Dies ist der Grund, | ||||||
| 07 | warum ich nicht schrieb. Ich konnte nicht schreiben, weil die Post für | ||||||
| 08 | mich zu kostbar war und sich kein anderer Weg, als die Post, ausmitteln | ||||||
| 09 | ließ. | ||||||
| 10 | Was den Zustand der Philosophie in England betrift, so ist er, | ||||||
| 11 | wenn man den mathematischen und empirischen Theil derselben ausnimt, | ||||||
| 12 | herzlich schlecht, und kan wirklich nicht schlechter seyn. Ich habe | ||||||
| 13 | sehr viele Freunde und Bekannte in der hiesigen Königl. Gesellsch[aft] | ||||||
| 14 | der Wissenschaften, und lese die beliebtesten philosophischen Schriftsteller | ||||||
| 15 | im Englischen, aber muß gestehen, daß ich gewöhnlich den dogmatischen | ||||||
| 16 | Scepticism, den Materialism, den Idealism und andere entgegengesetzte | ||||||
| 17 | Systeme in einem einzigen zusammen gestoppelt gefunden habe, und | ||||||
| 18 | daß diese glückliche Vereinigung auch hier als ein großer Vorzug des | ||||||
| 19 | gesunden Menschen Verstandes vor dem speculativen angepriesen wird. | ||||||
| 20 | Die Widersprüche in den practischen Grundsätzen, und das Mißtrauen | ||||||
| 21 | gegen die Entscheidungen der Vernunft scheinen hier aufs höchste gestiegen | ||||||
| 22 | zu seyn, und wären die Engländer nicht durch Vergnügungen | ||||||
| 23 | und Noth an einander gecknüpft, ich bin völlig überzeugt, daß sie sich | ||||||
| 24 | alle ermorden würden, wenn sie ohne Furcht nach ihren Grundsätzen | ||||||
| 25 | handeln dürften; so verkehrt und wiedersprechend sind diese Grundsätze, | ||||||
| 26 | ob sie gleich alle empirisch den Willen bestimmen. Ich habe die Ehre | ||||||
| 27 | der erste zu seyn, der in London über die Kantische Philosophie Vorlesungen | ||||||
| 28 | gehalten, und werde vielleicht der erste seyn, der nach Reinhold | ||||||
| 29 | eine Einleitung über dieses merkwürdige System im Englischen | ||||||
| 30 | schreiben wird. Ich sage aber nichts weiter, als daß ich völlig überzeugt | ||||||
| 31 | bin, daß keiner so etwas unternehmen muß, der sich nicht vollig | ||||||
| 32 | der Sache gewach[sen] fühlt. Es muß gut seyn oder lieber gar nichts. | ||||||
| 33 | Meine Vorlesungen hatten großen und unerwarteten Beyfall. Man | ||||||
| 34 | kennt bis jetzt nicht einmahl den Titel Ihrer unsterblichen Werke, | ||||||
| 35 | vielweniger den Inhalt. Im Fall Dieselben es mir erlauben; so | ||||||
| 36 | könnte ich künftig Denenselben einige weitere Nachrichten von dem | ||||||
| 37 | Fortgange meines wichtigen und ehrenvollen Unternehmens mittheilen. | ||||||
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