Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 436

      
           
 

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    580.      
  02 Von Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter.      
           
  03 15. Iuni 1793.      
           
  04 Wohlgebohrner Herr,      
  05 Hochzuehrender Herr Professor,      
  06 Sie haben die Güte gehabt mir durch den HErrn Nicolovius ein      
  07 Exemplar Ihrer neuesten Schrift zu überschiken und ich statte Ihnen      
  08 meinen verbindlichsten Dank dafür ab. Es hat dis Ihr Geschenk um      
  09 so mehr Werth für mich, da es mir ein Beweis zu sein scheint, da      
  10 Sie mir Ihre Freundschaft nicht entzogen haben; ein Gedanke, der      
  11 mich bisher sehr betrübt hat, weil gewiß niemand eine größere und      
  12 reinere Achtung für Sie empfindet als ich. Ich hätte meine Pflicht      
  13 Ihnen meinen Dank abzustatten schon längst erfüllt, wenn nicht eine      
  14 starke Geschwulst meines rechten Arms, die mir seit beinahe drei      
  15 Wochen nicht zu schreiben erlaubt, es mir unmöglich gemacht hätte.      
  16 Ihre Schrift hat mich entzückt, theils wegen der neuen Aufschlüsse, die      
  17 ich aus ihr erhielt, theils wegen der so äußerst glücklichen Deutung      
  18 mehrerer biblischen Stellen. Sie kann richtig verstanden unendlichen      
  19 Vortheil bringen, wenigstens dem elenden Streit der Religionspartheien      
  20 und der Ketzermacherei ein Ende machen. Ich bin sehr begierig zu      
  21 hören was unsere Theologen und vorzüglich was unsere Ketzerrichter      
  22 dazu sagen werden, da sie den Druck derselben doch nicht haben hindern      
  23 können.      
           
  24 Herr Tilling aus Curland, der mir ein Compliment von Ihnen      
  25 gebracht hat, hat mir zu meiner großen Freude erzählt, daß Sie sich      
  26 vollkommen wohl befinden. So können wir also hoffen, daß Ihre      
  27 Moral recht bald erscheinen wird und gewiß ist kein Buch von so vielen      
  28 so sehnlich erwartet worden als dis. Der größte Theil der denkenden      
  29 Menschen hat sich, wie dis auch leicht vorauszusehen war, von der      
  30 Richtigkeit des formalen Prinzips der Moral überzeugt, aber die Herleitung      
  31 eines Systems der Pflichten und die Deduction mehrerer Rechte      
  32 (z. B. des Rechts des Eigenthums) hat so viel Schwierigkeiten, die      
  33 alle bis jetzt erschienenen Systeme nicht völlig heben, daß jedermann      
  34 die Erscheinung eines Systems der Moral von Ihnen herzlich wünscht;      
  35 und dis gewiß um so mehr, da grade jetzt durch die französische Revolution      
  36 eine Menge dieser Fragen von neuem in Anregung gebracht      
           
     

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