Kant: AA VIII, Zum ewigen Frieden. Ein ... , Seite 371

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Nun gründet aber der Praktiker (dem die Moral bloße Theorie ist)      
  02 seine trostlose Absprechung unserer gutmüthigen Hoffnung (selbst bei eingeräumtem      
  03 Sollen und Können) eigentlich darauf: daß er aus der Natur      
  04 des Menschen vorher zu sehen vorgiebt, er werde dasjenige nie wollen,      
  05 was erfordert wird, um jenen zum ewigen Frieden hinführenden Zweck zu      
  06 Stande zu bringen. - Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen,      
  07 in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprincipien zu leben (die      
  08 distributive Einheit des Willens Aller), zu diesem Zweck nicht hinreichend,      
  09 sondern daß Alle zusammen diesen Zustand wollen (die collective      
  10 Einheit des vereinigten Willens), diese Auflösung einer schweren      
  11 Aufgabe, wird noch dazu erfordert, damit ein Ganzes der bürgerlichen      
  12 Gesellschaft werde, und da also über diese Verschiedenheit des particularen      
  13 Wollens Aller noch eine vereinigende Ursache desselben hinzukommen muß,      
  14 um einen gemeinschaftlichen Willen herauszubringen, welches Keiner von      
  15 Allen vermag: so ist in der Ausführung jener Idee (in der Praxis) auf      
  16 keinen andern Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch      
  17 Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird;      
  18 welches dann freilich (da man ohnedem des Gesetzgebers moralische Gesinnung      
  19 hiebei wenig in Anschlag bringen kann, er werde nach geschehener      
  20 Vereinigung der wüsten Menge in ein Volk diesem es nun überlassen, eine      
  21 rechtliche Verfassung durch ihren gemeinsamen Willen zu Stande zu      
  22 bringen) große Abweichungen von jener Idee (der Theorie) in der wirklichen      
  23 Erfahrung schon zum voraus erwarten läßt.      
           
  24 Da heißt es dann: wer einmal die Gewalt in Händen hat, wird sich      
  25 vom Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen. Ein Staat, der einmal im Besitz      
  26 ist, unter keinen äußeren Gesetzen zu stehen, wird sich in Ansehung der      
  27 Art, wie er gegen andere Staaten sein Recht suchen soll, nicht von ihrem      
  28 Richterstuhl abhängig machen, und selbst ein Welttheil, wenn er sich einem      
  29 andern, der ihm übrigens nicht im Wege ist, überlegen fühlt, wird das      
  30 Mittel der Verstärkung seiner Macht durch Beraubung oder gar Beherrschung      
  31 desselben nicht unbenutzt lassen; und so zerrinnen nun alle Plane der      
  32 Theorie für das Staats=, Völker= und Weltbürgerrecht in sachleere, unausführbare      
  33 Ideale, dagegen eine Praxis, die auf empirische Principien der      
  34 menschlichen Natur gegründet ist, welche es nicht für zu niedrig hält, aus      
  35 der Art, wie es in der Welt zugeht, Belehrung für ihre Maximen zu ziehen,      
  36 einen sicheren Grund für ihr Gebäude der Staatsklugheit zu finden allein      
  37 hoffen könne.      
           
           
     

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