Kant: AA VIII, Zum ewigen Frieden. Ein ... , Seite 370 |
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Text (Kant):
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01 | Anhang. |
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02 | I |
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03 | Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf |
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04 | den ewigen Frieden. |
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05 | Die Moral ist schon an sich selbst eine Praxis in objectiver Bedeutung, | ||||||
06 | als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln | ||||||
07 | sollen, und es ist offenbare Ungereimtheit, nachdem man diesem Pflichtbegriff | ||||||
08 | seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, daß man | ||||||
09 | es doch nicht könne. Denn alsdann fällt dieser Begriff aus der Moral | ||||||
10 | von selbst weg ( ultra posse nemo obligatur ); mithin kann es keinen Streit | ||||||
11 | der Politik als ausübender Rechtslehre mit der Moral als einer solchen, | ||||||
12 | aber theoretischen (mithin keinen Streit der Praxis mit der Theorie) geben: | ||||||
13 | man müßte denn unter der letzteren eine allgemeine Klugheitslehre, | ||||||
14 | d. i. eine Theorie der Maximen verstehen, zu seinen auf Vortheil berechneten | ||||||
15 | Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen, d. i. läugnen, daß es | ||||||
16 | überhaupt eine Moral gebe. | ||||||
17 | Die Politik sagt: "Seid klug wie die Schlangen"; die Moral | ||||||
18 | setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: "und ohne Falsch wie die | ||||||
19 | Tauben." Wenn beides nicht in einem Gebote zusammen bestehen kann, | ||||||
20 | so ist wirklich ein Streit der Politik mit der Moral; soll aber doch durchaus | ||||||
21 | beides vereinigt sein, so ist der Begriff vom Gegentheil absurd, und | ||||||
22 | die Frage, wie jener Streit auszugleichen sei, läßt sich gar nicht einmal | ||||||
23 | als Aufgabe hinstellen. Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste | ||||||
24 | Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: | ||||||
25 | so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser | ||||||
26 | denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche | ||||||
27 | Bedingung der letzteren. Der Grenzgott der Moral weicht | ||||||
28 | nicht dem Jupiter (dem Grenzgott der Gewalt); denn dieser steht noch | ||||||
29 | unter dem Schicksal, d. i. die Vernunft ist nicht erleuchtet genug, die Reihe | ||||||
30 | der vorherbestimmenden Ursachen zu übersehen, die den glücklichen oder | ||||||
31 | schlimmen Erfolg aus dem Thun und Lassen der Menschen nach dem | ||||||
32 | Mechanism der Natur mit Sicherheit vorher verkündigen (obgleich ihn | ||||||
33 | dem Wunsche gemäß hoffen) lassen. Was man aber zu thun habe, um im | ||||||
34 | Gleise der Pflicht (nach Regeln der Weisheit) zu bleiben, dazu und hiemit | ||||||
35 | zum Endzweck leuchtet sie uns überall hell genug vor. | ||||||
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