Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 458

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Casuistische Fragen.
     
           
  02 Würde es mit dem Wohl der Welt überhaupt nicht besser stehen,      
  03 wenn alle Moralität der Menschen nur auf Rechtspflichten, doch mit der      
  04 größten Gewissenhaftigkeit eingeschränkt, das Wohlwollen aber unter die      
  05 Adiaphora gezählt würde? Es ist nicht so leicht zu übersehen, welche      
  06 Folge es auf die Glückseligkeit der Menschen haben dürfte. Aber in diesem      
  07 Fall würde es doch wenigstens an einer großen moralischen Zierde      
  08 der Welt, nämlich der Menschenliebe, fehlen, welche also für sich, auch      
  09 ohne die Vortheile (der Glückseligkeit) zu berechnen, die Welt als ein schönes      
  10 moralisches Ganze in ihrer ganzen Vollkommenheit darzustellen erfordert      
  11 wird.      
           
  12 Dankbarkeit ist eigentlich nicht Gegenliebe des Verpflichteten gegen      
  13 den Wohlthäter, sondern Achtung vor demselben. Denn der allgemeinen      
  14 Nächstenliebe kann und muß Gleichheit der Pflichten zum Grunde gelegt      
  15 werden; in der Dankbarkeit aber steht der Verpflichtete um eine Stufe      
  16 niedriger als sein Wohlthäter. Sollte das nicht die Ursache so mancher      
  17 Undankbarkeit sein, nämlich der Stolz, einen über sich zu sehen; der Widerwille,      
  18 sich nicht in völlige Gleichheit (was die Pflichtverhältnisse betrifft)      
  19 mit ihm setzen zu können?      
           
  20
Von der Menschenliebe gerade ( Contrarie ) entgegengesetzten
     
  21
Lastern des Menschenhasses.
     
           
  22
§ 36.
     
           
  23 Sie machen die abscheuliche Familie des Neides, der Undankbarkeit      
  24 und der Schadenfreude aus. - Der Haß ist aber hier nicht offen      
  25 und gewaltthätig, sondern geheim und verschleiert, welches zu der Pflichtvergessenheit      
  26 gegen seinen Nächsten noch Niederträchtigkeit hinzuthut und      
  27 so zugleich die Pflicht gegen sich selbst verletzt.      
           
  28 a) Der Neid ( livor ), als Hang das Wohl Anderer mit Schmerz      
  29 wahrzunehmen, obzwar dem seinigen dadurch kein Abbruch geschieht, der,      
  30 wenn er zur That (jenes Wohl zu schmälern) ausschlägt, qualificirter      
  31 Neid, sonst aber nur Mißgunst ( invidentia ) heißt, ist doch nur eine      
  32 indirect=bösartige Gesinnung, nämlich ein Unwille, unser eigen Wohl durch      
  33 das Wohl Anderer in Schatten gestellt zu sehen, weil wir den Maßstab desselben      
  34 nicht in dessen innerem Werth, sondern nur in der Vergleichung mit      
           
     

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