Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 457 |
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01 | das zweite ist unfrei ( communio sentiendi illiberalis, servilis ) und kann | ||||||
02 | mittheilend (wie die der Wärme oder ansteckender Krankheiten), auch | ||||||
03 | Mitleidenschaft heißen: weil sie sich unter nebeneinander lebenden Menschen | ||||||
04 | natürlicher Weise verbreitet. Nur zu dem ersteren giebts Verbindlichkeit. | ||||||
06 | Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der | ||||||
07 | Stoiker dachte, wenn er ihn sagen ließ: ich wünsche mir einen Freund, | ||||||
08 | nicht der mir in Armuth, Krankheit, in der Gefangenschaft u. s. w. Hülfe | ||||||
09 | leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; | ||||||
10 | und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu | ||||||
11 | retten ist, zu sich selbst: was gehts mich an? D. i. er verwarf die Mitleidenschaft. | ||||||
13 | In der That, wenn ein Anderer leidet und ich mich durch seinen | ||||||
14 | Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) | ||||||
15 | anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich | ||||||
16 | (in der Natur) nur einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht | ||||||
17 | sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid | ||||||
18 | wohl zu thun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohlthuns | ||||||
19 | sein würde, indem es ein Wohlwollen ausdrückt, was sich auf den Unwürdigen | ||||||
20 | bezieht und Barmherzigkeit genannt wird, und unter Menschen, | ||||||
21 | welche mit ihrer Würdigkeit glücklich zu sein eben nicht prahlen | ||||||
22 | dürfen, respectiv gegen einander gar nicht vorkommen sollte. | ||||||
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24 | Obzwar aber Mitleid (und so auch Mitfreude) mit Anderen zu haben | ||||||
25 | an sich selbst nicht Pflicht ist, so ist es doch thätige Theilnehmung an ihrem | ||||||
26 | Schicksale und zu dem Ende also indirecte Pflicht, die mitleidige natürliche | ||||||
27 | (ästhetische) Gefühle in uns zu cultiviren und sie als so viele Mittel zur | ||||||
28 | Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl | ||||||
29 | zu benutzen. - So ist es Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, | ||||||
30 | denen das Nothwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen, | ||||||
31 | die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener u. dergl. | ||||||
32 | zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren | ||||||
33 | könne, auszuweichen: weil dieses doch einer der in uns von der | ||||||
34 | Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung | ||||||
35 | für sich allein nicht ausrichten würde. | ||||||
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