Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 459

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 dem Wohl Anderer zu schätzen und diese Schätzung zu versinnlichen wissen.      
  02 - Daher spricht man auch wohl von einer beneidungswürdigen Eintracht      
  03 und Glückseligkeit in einer Ehe oder Familie u. s. w.; gleich als ob      
  04 es in manchen Fällen erlaubt wäre, jemanden zu beneiden. Die Regungen      
  05 des Neides liegen also in der Natur des Menschen, und nur der Ausbruch      
  06 derselben macht sie zu dem scheuslichen Laster einer grämischen, sich      
  07 selbst folternden und auf Zerstörung des Glücks Anderer wenigstens dem      
  08 Wunsche nach gerichteten Leidenschaft, ist mithin der Pflicht des Menschen      
  09 gegen sich selbst sowohl, als gegen Andere entgegengesetzt.      
           
  10 b) Undankbarkeit gegen seinen Wohlthäter, welche, wenn sie gar so      
  11 weit geht, seinen Wohlthäter zu hassen, qualificirte Undankbarkeit,      
  12 sonst aber blos Unerkenntlichkeit heißt, ist ein zwar im öffentlichen      
  13 Urtheile höchst verabscheutes Laster, gleichwohl ist der Mensch desselben      
  14 wegen so berüchtigt, daß man es nicht für unwahrscheinlich hält, man      
  15 könne sich durch erzeigte Wohlthaten wohl gar einen Feind machen.      
  16 Der Grund der Möglichkeit eines solchen Lasters liegt in der mißverstandenen      
  17 Pflicht gegen sich selbst, die Wohlthätigkeit Anderer, weil sie uns      
  18 Verbindlichkeit gegen sie auferlegt, nicht zu bedürfen und aufzufordern,      
  19 sondern lieber die Beschwerden des Lebens selbst zu ertragen, als Andere      
  20 damit zu belästigen, mithin dadurch bei ihnen in Schulden (Verpflichtung)      
  21 zu kommen: weil wir dadurch auf die niedere Stufe des Beschützten gegen      
  22 seinen Beschützer zu gerathen fürchten; welches der ächten Selbstschätzung      
  23 (auf die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person stolz zu sein) zuwider      
  24 ist. Daher Dankbarkeit gegen die, die uns im Wohlthun unvermeidlich      
  25 zuvor kommen mußten, (gegen Vorfahren im Angedenken, oder      
  26 gegen Eltern) freigebig, die aber gegen Zeitgenossen nur kärglich, ja, um      
  27 dieses Verhältniß der Ungleichheit unsichtbar zu machen, wohl gar das      
  28 Gegentheil derselben bewiesen wird. - Dieses ist aber alsdann ein die      
  29 Menschheit empörendes Laster, nicht blos des Schadens wegen, den ein      
  30 solches Beispiel Menschen überhaupt zuziehen muß, von fernerer Wohlthätigkeit      
  31 abzuschrecken (denn diese können mit ächtmoralischer Gesinnung      
  32 eben in der Verschmähung alles solchen Lohns ihrem Wohlthun nur einen      
  33 desto größeren inneren moralischen Werth setzen): sondern weil die Menschenliebe      
  34 hier gleichsam auf den Kopf gestellt und der Mangel der Liebe      
  35 gar in die Befugniß, den Liebenden zu hassen, verunedelt wird.      
           
  36 c) Die Schadenfreude, welche das gerade Umgekehrte der Theilnehmung      
  37 ist, ist der menschlichen Natur auch nicht fremd; wiewohl, wenn      
           
     

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