Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 295

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
III
     
  02
Der Nachlaß eines guten Namens nach dem Tode.
     
  03
( Bona fama defuncti. )
     
  04
§ 35.
     
           
  05 Daß der Verstorbene nach seinem Tode (wenn er also nicht mehr ist)      
  06 noch etwas besitzen könne, wäre eine Ungereimtheit zu denken, wenn der      
  07 Nachlaß eine Sache wäre. Nun ist aber der gute Name ein angebornes      
  08 äußeres, obzwar bloß ideales Mein oder Dein, was dem Subject als einer      
  09 Person anhängt, von deren Natur, ob sie mit dem Tode gänzlich aufhöre      
  10 zu sein, oder immer noch als solche übrig bleibe, ich abstrahiren kann und      
  11 muß, weil ich im rechtlichen Verhältniß auf andere jede Person bloß nach      
  12 ihrer Menschheit, mithin als homo noumenon wirklich betrachte, und so      
  13 ist jeder Versuch, ihn nach dem Tode in übele falsche Nachrede zu bringen,      
  14 immer bedenklich; obgleich eine gegründete Anklage desselben gar wohl      
  15 statt findet (mithin der Grundsatz: de mortuis nihil nisi bene , unrichtig      
  16 ist), weil gegen den Abwesenden, welcher sich nicht vertheidigen kann, Vorwürfe      
  17 auszustreuen ohne die größte Gewißheit derselben wenigstens ungroßmüthig      
  18 ist.      
           
  19 Daß durch ein tadelloses Leben und einen dasselbe beschließenden      
  20 Tod der Mensch einen (negativ=) guten Namen als das Seine, welches      
  21 ihm übrig bleibt, erwerbe, wenn er als homo phaenomenon nicht mehr      
  22 existirt, und daß die Überlebenden (angehörige, oder fremde) ihn auch      
  23 vor Recht zu vertheidigen befugt sind (weil unerwiesene Anklage sie insgesammt      
  24 wegen ähnlicher Begegnung auf ihren Sterbefall in Gefahr      
  25 bringt), daß er, sage ich, ein solches Recht erwerben könne, ist eine sonderbare,      
  26 nichtsdestoweniger unläugbare Erscheinung der a priori gesetzgebenden      
  27 Vernunft, die ihr Gebot und Verbot auch über die Grenze des      
  28 Lebens hinaus erstreckt. - Wenn jemand von einem Verstorbenen ein      
  29 Verbrechen verbreitet, das diesen im Leben ehrlos, oder nur verächtlich      
  30 gemacht haben würde: so kann ein jeder, welcher einen Beweis führen      
  31 kann, daß diese Beschuldigung vorsetzlich unwahr und gelogen sei, den,      
  32 welcher jenen in böse Nachrede bringt, für einen Calumnianten öffentlich      
  33 erklären, mithin ihn selbst ehrlos machen; welches er nicht thun dürfte,      
  34 wenn er nicht mit Recht voraussetzte, daß der Verstorbene dadurch beleidigt      
  35 wäre, ob er gleich todt ist, und daß diesem durch jene Apologie Genugthuung      
           
     

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