Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 296

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 widerfahre, ob er gleich nicht mehr existirt.*) Die Befugniß, die      
  02 Rolle des Apologeten für den Verstorbenen zu spielen, darf dieser auch      
  03 nicht beweisen; denn jeder Mensch maßt sie sich unvermeidlich an, als nicht      
  04 bloß zur Tugendpflicht (ethisch betrachtet), sondern sogar zum Recht der      
  05 Menschheit überhaupt gehörig: und es bedarf hiezu keiner besonderen persönlichen      
  06 Nachtheile, die etwa Freunden und Anverwandten aus einem      
  07 solchen Schandfleck am Verstorbenen erwachsen dürften, um jenen zu einer      
  08 solchen Rüge zu berechtigen. - Daß also eine solche ideale Erwerbung      
  09 und ein Recht des Menschen nach seinem Tode gegen die Überlebenden      
  10 gegründet sei, ist nicht zu streiten, obschon die Möglichkeit desselben keiner      
  11 Deduction fähig ist.      
           
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Drittes Hauptstück.

     
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Von der subjectiv=bedingten Erwerbung durch den Ausspruch

     
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einer öffentlichen Gerichtsbarkeit.

     
           
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§ 36.
     
           
  16 Wenn unter Naturrecht nur das nicht=statutarische, mithin lediglich      
  17 das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht verstanden      
           
    *) Daß man aber hiebei ja nicht auf Vorempfindung eines künftigen Lebens und unsichtbare Verhältnisse zu abgeschiedenen Seelen schwärmerisch schließe, denn es ist hier von nichts weiter, als dem rein moralischen und rechtlichen Verhältniß, was unter Menschen auch im Leben statt hat, die Rede, worin sie als intelligibele Wesen stehen, indem man alles Physische (zu ihrer Existenz in Raum und Zeit Gehörende) logisch davon absondert, d. i. davon abstrahirt, nicht aber die Menschen diese ihre Natur ausziehen und sie Geister werden läßt, in welchem Zustande sie die Beleidigung durch ihre Verleumder fühlten. - Der, welcher nach hundert Jahren mir etwas Böses fälschlich nachsagt, beleidigt mich schon jetzt; denn im reinen Rechtsverhältnisse, welches ganz intellectuell ist, wird von allen physischen Bedingungen (der Zeit) abstrahirt, und der Ehrenräuber (Calumniant) ist eben sowohl strafbar, als ob er es in meiner Lebzeit gethan hätte; nur durch kein Criminalgericht, sondern nur dadurch, daß ihm nach dem Recht der Wiedervergeltung durch die öffentliche Meinung derselbe Verlust der Ehre zugefügt wird, die er an einem anderen schmälerte. - Selbst das Plagiat, welches ein Schriftsteller an Verstorbenen verübt, ob es zwar die Ehre des Verstorbenen nicht befleckt, sondern diesen nur einen Theil derselben entwendet, wird doch mit Recht als Läsion desselben (Menschenraub) geahndet.      
           
     

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