Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 294 |
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01 | sei, ankommt, so muß die Frage: wie ist die Erwerbart durch Beerbung | ||||||
02 | möglich? Von den mancherlei möglichen Formen ihrer Ausführung (die | ||||||
03 | nur in einem gemeinen Wesen statt finden) unabhängig untersucht werden. | ||||||
04 | "Es ist möglich, durch Erbeseinsetzung zu erwerben." - Denn der | ||||||
05 | Erblasser Cajus verspricht und erklärt in seinem letzten Willen dem | ||||||
06 | Titius, der nichts von jenem Versprechen weiß, seine Habe solle im Sterbefall | ||||||
07 | auf diesen übergehen, und bleibt also, so lange er lebt, alleiniger | ||||||
08 | Eigenthümer derselben. Nun kann zwar durch den bloßen einseitigen Willen | ||||||
09 | nichts auf den Anderen übergehen: sondern es wird über dem Versprechen | ||||||
10 | noch Annehmung ( acceptatio ) des anderen Theils dazu erfordert und ein | ||||||
11 | gleichzeitiger Wille ( voluntas simultanea ), welcher jedoch hier mangelt; | ||||||
12 | denn so lange Cajus lebt, kann Titius nicht ausdrücklich acceptiren, um | ||||||
13 | dadurch zu erwerben: weil jener nur auf den Fall des Todes versprochen | ||||||
14 | hat (denn sonst wäre das Eigenthum einen Augenblick gemeinschaftlich, | ||||||
15 | welches nicht der Wille des Erblassers ist). - Dieser aber erwirbt doch | ||||||
16 | stillschweigend ein eigenthümliches Recht an der Verlassenschaft als ein | ||||||
17 | Sachenrecht, nämlich ausschließlich sie zu acceptiren ( ius in re iacente ), | ||||||
18 | daher diese in dem gedachten Zeitpunkt haereditas iacens heißt. Da nun | ||||||
19 | jeder Mensch nothwendigerweise (weil er dadurch wohl gewinnen, nie aber | ||||||
20 | verlieren kann) ein solches Recht, mithin auch stillschweigend acceptirt und | ||||||
21 | Titius nach dem Tode des Cajus in diesem Falle ist, so kann er die Erbschaft | ||||||
22 | durch Annahme des Versprechens erwerben, und sie ist nicht etwa | ||||||
23 | mittlerweile ganz herrenlos ( res nullius ), sondern nur erledigt ( res vacua ) | ||||||
24 | gewesen: weil er ausschließlich das Recht der Wahl hatte, ob er die | ||||||
25 | hinterlassene Habe zu der seinigen machen wollte, oder nicht. | ||||||
26 | Also sind die Testamente auch nach dem bloßen Naturrecht gültig | ||||||
27 | ( sunt iuris naturae ); welche Behauptung aber so zu verstehen | ||||||
28 | ist, daß sie fähig und würdig seien im bürgerlichen Zustande (wenn | ||||||
29 | dieser dereinst eintritt) eingeführt und sanctionirt zu werden. Denn | ||||||
30 | nur dieser (der allgemeine Wille in demselben) bewahrt den Besitz | ||||||
31 | der Verlassenschaft während dessen, daß diese zwischen der Annahme | ||||||
32 | und der Verwerfung schwebt und eigentlich keinem angehört. | ||||||
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