Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 292

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 voraussetzen darf ( per consensum praesumtum ), noch weil ich,      
  02 da er nicht widerspricht, annehmen kann, er habe seine Sache aufgegeben      
  03 ( rem derelictam ), sondern weil, wenn es auch einen wahren und auf diese      
  04 Sache als Eigenthümer Anspruch Machenden (Prätendenten) gäbe, ich      
  05 ihn doch bloß durch meinen langen Besitz ausschließen, sein bisheriges      
  06 Dasein ignoriren und gar, als ob er zur Zeit meines Besitzes nur als      
  07 Gedankending existirte, verfahren darf: wenn ich gleich von seiner Wirklichkeit      
  08 sowohl, als der seines Anspruchs hinterher benachrichtigt sein      
  09 möchte. - Man nennt diese Art der Erwerbung nicht ganz richtig die      
  10 durch Verjährung ( per praescriptionem ); denn die Ausschließung ist      
  11 nur als die Folge von jener anzusehen; die Erwerbung muß vorhergegangen      
  12 sein. - Die Möglichkeit auf diese Art zu erwerben ist nun zu      
  13 beweisen.      
           
  14 Wer nicht einen beständigen Besitzact ( actus possessorius ) einer      
  15 äußeren Sache, als der seinen, ausübt, wird mit Recht als einer, der (als      
  16 Besitzer) gar nicht existirt, angesehen; denn er kann nicht über Läsion      
  17 klagen, so lange er sich nicht zum Titel eines Besitzers berechtigt, und wenn      
  18 er sich hinten nach, da schon ein Anderer davon Besitz genommen hat,      
  19 auch dafür erklärte, so sagt er doch nur, er sei ehedem einmal Eigenthümer      
  20 gewesen, aber nicht, er sei es noch, und der Besitz sei ohne einen continuirlichen      
  21 rechtlichen Act ununterbrochen geblieben. - Es kann also nur      
  22 ein rechtlicher und zwar sich continuirlich erhaltender und documentirter      
  23 Besitzact sein, durch welchen er bei einem langen Nichtgebrauch sich das      
  24 Seine sichert.      
           
  25 Denn setzet: die Versäumung dieses Besitzacts hätte nicht die Folge,      
  26 daß ein Anderer auf seinen gesetzmäßigen und ehrlichen Besitz ( possessio      
  27 bonae fidei ) einen zu Recht beständigen ( possessio irrefragabilis ) gründe      
  28 und die Sache, die in seinem Besitz ist, als von ihm erworben ansehe, so      
  29 würde gar keine Erwerbung peremtorisch (gesichert), sondern alle nur provisorisch      
  30 (einstweilig) sein: weil die Geschichtskunde ihre Nachforschung      
  31 bis zum ersten Besitzer und dessen Erwerbact hinauf zurückzuführen nicht      
  32 vermögend ist. - Die Präsumtion, auf welcher sich die Ersitzung ( usucapio )      
  33 gründet, ist also nicht bloß rechtmäßig (erlaubt, iusta ) als Vermuthung,      
  34 sondern auch rechtlich ( praesumtio iuris et de iure ) als Voraussetzung      
  35 nach Zwangsgesetzen ( suppositio legalis ): wer seinen Besitzact      
  36 zu documentiren verabsäumt, hat seinen Anspruch auf den dermaligen      
  37 Besitzer verloren, wobei die Länge der Zeit der Verabsäumung (die gar      
           
     

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