Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 302 |
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01 | als ihr eine moralische Idee beigesellt wird; aber nicht dieses, sondern | ||||||
02 | die Beschaffenheit derselben an sich selbst, daß sie sich zu einer solchen | ||||||
03 | Beigesellung qualificirt, die ihr also innerlich zukommt, interessirt unmittelbar. | ||||||
05 | Die Reize in der schönen Natur, welche so häufig mit der schönen | ||||||
06 | Form gleichsam zusammenschmelzend angetroffen werden, sind entweder | ||||||
07 | zu den Modificationen des Lichts (in der Farbengebung) oder des Schalles | ||||||
08 | (in Tönen) gehörig. Denn diese sind die einzigen Empfindungen, welche | ||||||
09 | nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Reflexion über die Form dieser | ||||||
10 | Modificationen der Sinne verstatten und so gleichsam eine Sprache, die | ||||||
11 | die Natur zu uns führt, und die einen höhern Sinn zu haben scheint, in | ||||||
12 | sich enthalten. So scheint die weiße Farbe der Lilie das Gemüth zu Ideen | ||||||
13 | der Unschuld und nach der Ordnung der sieben Farben von der rothen | ||||||
14 | an bis zur violetten 1) zur Idee der Erhabenheit, 2) der Kühnheit, 3) der | ||||||
15 | Freimüthigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5) der Bescheidenheit, 6) der Standhaftigkeit | ||||||
16 | und 7) der Zärtlichkeit zu stimmen. Der Gesang der Vögel | ||||||
17 | verkündigt Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz. Wenigstens | ||||||
18 | so deuten wir die Natur aus, es mag dergleichen ihre Absicht sein | ||||||
19 | oder nicht. Aber dieses Interesse, welches wir hier an Schönheit nehmen, | ||||||
20 | bedarf durchaus, daß es Schönheit der Natur sei; und es verschwindet | ||||||
21 | ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es sei nur Kunst: so | ||||||
22 | gar, daß auch der Geschmack alsdann nichts Schönes, oder das Gesicht | ||||||
23 | etwas Reizendes mehr daran finden kann. Was wird von Dichtern höher | ||||||
24 | gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall in einsamen | ||||||
25 | Gebüschen an einem stillen Sommerabende bei dem sanften Lichte des | ||||||
26 | Mondes? Indessen hat man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen | ||||||
27 | wird, irgend ein lustiger Wirth seine zum Genuß der Landluft | ||||||
28 | bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen | ||||||
29 | hatte, daß er einen muthwilligen Burschen, welcher diesen Schlag | ||||||
30 | (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzuahmen | ||||||
31 | wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es | ||||||
32 | Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend | ||||||
33 | gehaltenen Gesange zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel | ||||||
34 | beschaffen. Es muß Natur sein, oder von uns dafür gehalten werden, | ||||||
35 | damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares | ||||||
36 | Interesse nehmen können; noch mehr aber, wenn wir gar andern zumuthen | ||||||
37 | dürfen, daß sie es daran nehmen sollen: welches in der That geschieht, | ||||||
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