Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 301 |
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01 | unmittelbar interessirt, bei dem hat man Ursache, wenigstens eine Anlage | ||||||
02 | zu guter moralischen Gesinnung zu vermuthen. | ||||||
03 | Man wird sagen: diese Deutung ästhetischer Urtheile auf Verwandtschaft | ||||||
04 | mit dem moralischen Gefühl sehe gar zu studirt aus, um sie für die | ||||||
05 | wahre Auslegung der Chiffreschrift zu halten, wodurch die Natur in ihren | ||||||
06 | schönen Formen figürlich zu uns spricht. Allein erstlich ist dieses unmittelbare | ||||||
07 | Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht gemein, sondern | ||||||
08 | nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, | ||||||
09 | oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist; und dann führt | ||||||
10 | die Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurtheile, welches, ohne von | ||||||
11 | irgend einem Interesse abzuhängen, ein Wohlgefallen fühlen läßt und es | ||||||
12 | zugleich a priori als der Menschheit überhaupt anständig vorstellt, und | ||||||
13 | dem moralischen Urtheile, welches eben dasselbe aus Begriffen thut, auch | ||||||
14 | ohne deutliches, subtiles und vorsätzliches Nachdenken auf ein gleichmäßiges | ||||||
15 | unmittelbares Interesse an dem Gegenstande des ersteren, so wie an | ||||||
16 | dem des letzteren: nur daß jenes ein freies, dieses ein auf objective Gesetze | ||||||
17 | gegründetes Interesse ist. Dazu kommt noch die Bewunderung der Natur, | ||||||
18 | die sich an ihren schönen Producten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, | ||||||
19 | sondern gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als | ||||||
20 | Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn äußerlich | ||||||
21 | nirgend antreffen, wir natürlicher Weise in uns selbst und zwar in demjenigen, | ||||||
22 | was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht, nämlich der | ||||||
23 | moralischen Bestimmung, suchen (von welcher Nachfrage nach dem Grunde | ||||||
24 | der Möglichkeit einer solchen Naturzweckmäßigkeit aber allererst in der | ||||||
25 | Teleologie die Rede sein wird). | ||||||
26 | Daß das Wohlgefallen an der schönen Kunst im reinen Geschmacksurtheile | ||||||
27 | nicht eben so mit einem unmittelbaren Interesse verbunden ist, | ||||||
28 | als das an der schönen Natur, ist auch leicht zu erklären. Denn jene ist | ||||||
29 | entweder eine solche Nachahmung von dieser, die bis zur Täuschung geht: | ||||||
30 | und alsdann thut sie die Wirkung als (dafür gehaltene) Naturschönheit; | ||||||
31 | oder sie ist eine absichtlich auf unser Wohlgefallen sichtbarlich gerichtete | ||||||
32 | Kunst: alsdann aber würde das Wohlgefallen an diesem Producte zwar | ||||||
33 | unmittelbar durch Geschmack statt finden, aber kein anderes als mittelbares | ||||||
34 | Interesse an der zum Grunde liegenden Ursache erwecken, nämlich | ||||||
35 | einer Kunst, welche nur durch ihren Zweck, niemals an sich selbst interessiren | ||||||
36 | kann. Man wird vielleicht sagen, daß dieses auch der Fall sei, | ||||||
37 | wenn ein Object der Natur durch seine Schönheit nur in sofern interessirt, | ||||||
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