Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 300 |
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01 | urtheilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem jene die Eitelkeit und | ||||||
02 | allenfalls gesellschaftliche Freuden unterhaltenden Schönheiten anzutreffen | ||||||
03 | sind, und sich zum Schönen der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust | ||||||
04 | für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig | ||||||
05 | entwickeln kann: so werden wir diese seine Wahl selber mit Hochachtung | ||||||
06 | betrachten und in ihm eine schöne Seele voraussetzen, auf die kein Kunstkenner | ||||||
07 | und Liebhaber um des Interesse willen, das er an seinen Gegenständen | ||||||
08 | nimmt, Anspruch machen kann. - Was ist nun der Unterschied | ||||||
09 | der so verschiedenen Schätzung zweierlei Objecte, die im Urtheile des | ||||||
10 | bloßen Geschmacks einander kaum den Vorzug streitig machen würden? | ||||||
11 | Wir haben ein Vermögen der bloß ästhetischen Urtheilskraft, ohne | ||||||
12 | Begriffe über Formen zu urtheilen und an der bloßen Beurtheilung | ||||||
13 | derselben ein Wohlgefallen zu finden, welches wir zugleich jedermann zur | ||||||
14 | Regel machen, ohne daß dieses Urtheil sich auf einem Interesse gründet, | ||||||
15 | noch ein solches hervorbringt. - Andererseits haben wir auch ein Vermögen | ||||||
16 | einer intellectuellen Urtheilskraft, für bloße Formen praktischer | ||||||
17 | Maximen (sofern sie sich zur allgemeinen Gesetzgebung von selbst qualificiren) | ||||||
18 | ein Wohlgefallen a priori zu bestimmen, welches wir jedermann | ||||||
19 | zum Gesetze machen, ohne daß unser Urtheil sich auf irgend einem Interesse | ||||||
20 | gründet, aber doch ein solches hervorbringt. Die Lust oder Unlust | ||||||
21 | im ersteren Urtheile heißt die des Geschmacks, die zweite des moralischen | ||||||
22 | Gefühls. | ||||||
23 | Da es aber die Vernunft auch interessirt, daß die Ideen (für die sie | ||||||
24 | im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objective | ||||||
25 | Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder | ||||||
26 | einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige | ||||||
27 | Übereinstimmung ihrer Producte zu unserm von allem Interesse unabhängigen | ||||||
28 | Wohlgefallen (welches wir a priori für jedermann als Gesetz | ||||||
29 | erkennen, ohne dieses auf Beweisen gründen zu können) anzunehmen: so | ||||||
30 | muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen | ||||||
31 | Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüth | ||||||
32 | über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich | ||||||
33 | interessirt zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach | ||||||
34 | moralisch; und der, welcher es am Schönen der Natur nimmt, kann es | ||||||
35 | nur sofern an demselben nehmen, als er vorher schon sein Interesse am | ||||||
36 | Sittlich=Guten wohlgegründet hat. Wen also die Schönheit der Natur | ||||||
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