Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 269 |
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Text (Kant):
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| 01 | lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zwölf nicht antreffen. Man | ||||||
| 02 | muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu | ||||||
| 03 | Hülfe nimmt, die einem von beiden correspondirt, etwa seine fünf Finger | ||||||
| 04 | oder (wie Segner in seiner Arithmetik) fünf Punkte, und so nach und nach | ||||||
| 05 | die Einheiten der in der Anschauung gegebenen Fünf zu dem Begriffe der | ||||||
| 06 | Sieben hinzuthut. Man erweitert also wirklich seinen Begriff durch diesen | ||||||
| 07 | Satz 7+5 = 12 und thut zu dem ersteren Begriff einen neuen hinzu, | ||||||
| 08 | der in jenem gar nicht gedacht war, d. i. der arithmetische Satz ist jederzeit | ||||||
| 09 | synthetisch, welches man desto deutlicher inne wird, wenn man etwas | ||||||
| 10 | größere Zahlen nimmt; da es denn klar einleuchtet, daß, wir möchten | ||||||
| 11 | unsern Begriff drehen und wenden, wie wir wollen, wir, ohne die Anschauung | ||||||
| 12 | zu Hülfe zu nehmen, vermittelst der bloßen Zergliederung unserer Begriffe, | ||||||
| 13 | die Summe niemals finden könnten. | ||||||
| 14 | Eben so wenig ist irgend ein Grundsatz der reinen Geometrie analytisch. | ||||||
| 15 | Daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei, ist | ||||||
| 16 | ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts | ||||||
| 17 | von Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt | ||||||
| 18 | also gänzlich hinzu und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriffe | ||||||
| 19 | der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier zu Hülfe | ||||||
| 20 | genommen werden, vermittelst deren allein die Synthesis möglich ist. | ||||||
| 21 | Einige andere Grundsätze, welche die Geometer voraussetzen, sind | ||||||
| 22 | zwar wirklich analytisch und beruhen auf dem Satze des Widerspruchs; | ||||||
| 23 | sie dienen aber nur, wie identische Sätze, zur Kette der Methode und nicht | ||||||
| 24 | als Principien, z. B. a = a, das Ganze ist sich selber gleich, oder (a+b) | ||||||
| 25 | größer als a, d. i. das Ganze ist größer als sein Theil. Und doch auch diese selbst, | ||||||
| 26 | ob sie gleich nach bloßen Begriffen gelten, werden in der Mathematik nur | ||||||
| 27 | darum zugelassen, weil sie in der Anschauung können dargestellt werden. | ||||||
| 28 | Was uns hier gemeiniglich glauben macht, als läge das Prädicat solcher | ||||||
| 29 | apodiktischen Urtheile schon in unserm Begriffe, und das Urtheil sei also | ||||||
| 30 | analytisch, ist blos die Zweideutigkeit des Ausdrucks. Wir sollen nämlich | ||||||
| 31 | zu einem gegebenen Begriffe ein gewisses Prädicat hinzudenken, und | ||||||
| 32 | diese Nothwendigkeit haftet schon an den Begriffen. Aber die Frage ist | ||||||
| 33 | nicht, was wir zu dem gegebenen Begriffe hinzu denken sollen, sondern | ||||||
| 34 | was wir wirklich in ihm, obzwar nur dunkel, denken; und da zeigt | ||||||
| 35 | sich, daß das Prädicat jenem Begriffe zwar nothwendig, aber nicht unmittelbar, | ||||||
| 36 | sondern vermittelst einer Anschauung, die hinzukommen muß, | ||||||
| 37 | anhänge. | ||||||
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