Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 240 |
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01 | Wozu haben wir wohl eine blos auf reine Vernunftprincipien gegründete | ||||||
02 | Seelenlehre nöthig? Ohne Zweifel vorzüglich in der Absicht, um | ||||||
03 | unser denkendes Selbst wider die Gefahr des Materialismus zu sichern. | ||||||
04 | Dieses leistet aber der Vernunftbegriff von unserem denkenden Selbst, den | ||||||
05 | wir gegeben haben. Denn weit gefehlt, daß nach demselben einige Furcht | ||||||
06 | übrig bliebe, daß, wenn man die Materie wegnähme, dadurch alles Denken | ||||||
07 | und selbst die Existenz denkender Wesen aufgehoben werden würde, so | ||||||
08 | wird vielmehr klar gezeigt, daß, wenn ich das denkende Subject wegnehme, | ||||||
09 | die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die | ||||||
10 | Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjects und eine Art Vorstellungen | ||||||
11 | desselben. | ||||||
12 | Dadurch erkenne ich zwar freilich dieses denkende Selbst seinen Eigenschaften | ||||||
13 | nach nicht besser, noch kann ich seine Beharrlichkeit, ja selbst nicht | ||||||
14 | einmal die Unabhängigkeit seiner Existenz von dem etwanigen transscendentalen | ||||||
15 | Substratum äußerer Erscheinungen einsehen; denn dieses ist mir | ||||||
16 | eben sowohl als jenes unbekannt. Weil es aber gleichwohl möglich ist, daß | ||||||
17 | ich anders woher als aus blos speculativen Gründen Ursache hernähme, | ||||||
18 | eine selbstständige und bei allem möglichen Wechsel meines Zustandes beharrliche | ||||||
19 | Existenz meiner denkenden Natur zu hoffen, so ist dadurch schon | ||||||
20 | viel gewonnen, bei dem freien Geständniß meiner eigenen Unwissenheit | ||||||
21 | dennoch die dogmatische Angriffe eines speculativen Gegners abtreiben zu | ||||||
22 | können und ihm zu zeigen, daß er niemals mehr von der Natur meines | ||||||
23 | Subjects wissen könne, um meinen Erwartungen die Möglichkeit abzusprechen, | ||||||
24 | als ich, um mich an ihnen zu halten. | ||||||
25 | Auf diesen transscendentalen Schein unserer psychologischen Begriffe | ||||||
26 | gründen sich dann noch drei dialektische Fragen, welche das eigentliche | ||||||
27 | Ziel der rationalen Psychologie ausmachen und nirgend anders, als durch | ||||||
28 | obige Untersuchungen entschieden werden können, nämlich: 1) von der | ||||||
29 | Möglichkeit der Gemeinschaft der Seele mit einem organischen Körper, | ||||||
30 | d. i. der Animalität und dem Zustande der Seele im Leben des Menschen; | ||||||
31 | 2) vom Anfange dieser Gemeinschaft, d. i. der Seele in und vor der Geburt | ||||||
32 | des Menschen; 3) dem Ende dieser Gemeinschaft, d. i. der Seele im | ||||||
33 | und nach dem Tode des Menschen (Frage wegen der Unsterblichkeit). | ||||||
34 | Ich behaupte nun, daß alle Schwierigkeiten, die man bei diesen | ||||||
35 | Fragen vorzufinden glaubt, und mit denen als dogmatischen Einwürfen | ||||||
36 | man sich das Ansehen einer tieferen Einsicht in die Natur der Dinge, als | ||||||
37 | der gemeine Verstand wohl haben kann, zu geben sucht, auf einem bloßen | ||||||
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