Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 239

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Sinne vergleichen: so finden wir außer dem, daß in beiden vieles empirisch      
  02 erkannt werden kann, doch diesen merkwürdigen Unterschied, daß in der      
  03 letzteren Wissenschaft doch vieles a priori aus dem bloßen Begriffe eines      
  04 ausgedehnten undurchdringlichen Wesens, in der ersteren aber aus dem      
  05 Begriffe eines denkenden Wesens gar nichts a priori synthetisch erkannt      
  06 werden kann. Die Ursache ist diese. Obgleich beides Erscheinungen sind,      
  07 so hat doch die Erscheinung vor dem äußeren Sinne etwas Stehendes oder      
  08 Bleibendes, welches ein den wandelbaren Bestimmungen zum Grunde      
  09 liegendes Substratum und mithin einen synthetischen Begriff, nämlich      
  10 den vom Raume und einer Erscheinung in demselben, an die Hand giebt:      
  11 anstatt daß die Zeit, welche die einzige Form unserer innern Anschauung      
  12 ist, nichts Bleibendes hat, mithin nur den Wechsel der Bestimmungen,      
  13 nicht aber den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen giebt. Denn in      
  14 dem, was wir Seele nennen, ist alles im continuirlichen Flusse und nichts      
  15 Bleibendes außer etwa (wenn man es durchaus will) das darum so einfache      
  16 Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Mannigfaltiges      
  17 hat, weswegen sie auch scheint ein einfaches Object vorzustellen oder,      
  18 besser gesagt, zu bezeichnen. Dieses ich müßte eine Anschauung sein,      
  19 welche, da sie beim Denken überhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgesetzt      
  20 würde, als Anschauung a priori synthetische Sätze lieferte, wenn es möglich      
  21 sein sollte, eine reine Vernunfterkenntniß von der Natur eines denkenden      
  22 Wesens überhaupt zu Stande zu bringen. Allein dieses Ich ist so      
  23 wenig Anschauung als Begriff von irgend einem Gegenstande, sondern      
  24 die bloße Form des Bewußtseins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten      
  25 und sie dadurch zu Erkenntnissen erheben kann, so fern nämlich      
  26 dazu noch irgend etwas anders in der Anschauung gegeben wird, welches      
  27 zu einer Vorstellung von einem Gegenstande Stoff darreicht. Also fällt      
  28 die ganze rationale Psychologie als eine alle Kräfte der menschlichen Vernunft      
  29 übersteigende Wissenschaft, und es bleibt uns nichts übrig, als unsere      
  30 Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studiren und uns in den Schranken      
  31 der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere Erfahrung      
  32 ihren Inhalt darlegen kann.      
           
  33 Ob sie nun aber gleich als erweiternde Erkenntniß keinen Nutzen hat,      
  34 sondern auch solche aus lauter Paralogismen zusammengesetzt ist, so kann      
  35 man ihr doch, wenn sie für nichts mehr als eine kritische Behandlung unserer      
  36 dialektischen Schlüsse und zwar der gemeinen und natürlichen Vernunft      
  37 gelten soll, einen wichtigen negativen Nutzen nicht absprechen.      
           
     

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