Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 232 |
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| 01 | Unter einem Idealisten muß man also nicht denjenigen verstehen, | ||||||
| 02 | der das Dasein äußerer Gegenstände der Sinne läugnet, sondern der nur | ||||||
| 03 | nicht einräumt, daß es durch unmittelbare Wahrnehmung erkannt werde, | ||||||
| 04 | daraus aber schließt, daß wir ihrer Wirklichkeit durch alle mögliche Erfahrung | ||||||
| 05 | niemals völlig gewiß werden können. | ||||||
| 06 | Ehe ich nun unseren Paralogismus seinem trüglichen Scheine nach | ||||||
| 07 | darstelle, muß ich zuvor bemerken, daß man nothwendig einen zweifachen | ||||||
| 08 | Idealism unterscheiden müsse, den transscendentalen und den empirischen. | ||||||
| 09 | Ich verstehe aber unter dem transscendentalen Idealism aller Erscheinungen | ||||||
| 10 | den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesammt als bloße | ||||||
| 11 | Vorstellungen und nicht als Dinge an sich selbst ansehen, und dem gemäß | ||||||
| 12 | Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für | ||||||
| 13 | sich gegebene Bestimmungen oder Bedingungen der Objecte als Dinge | ||||||
| 14 | an sich selbst sind. Diesem Idealism ist ein transscendentaler Realism | ||||||
| 15 | entgegengesetzt, der Zeit und Raum als etwas an sich (unabhängig | ||||||
| 16 | von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes ansieht. Der transscendentale Realist | ||||||
| 17 | stellt sich also äußere Erscheinungen (wenn man ihre Wirklichkeit einräumt) | ||||||
| 18 | als Dinge an sich selbst vor, die unabhängig von uns und unserer Sinnlichkeit | ||||||
| 19 | existiren, also auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns | ||||||
| 20 | wären. Dieser transscendentale Realist ist es eigentlich, welcher nachher | ||||||
| 21 | den empirischen Idealisten spielt und, nachdem er fälschlich von Gegenständen | ||||||
| 22 | der Sinne vorausgesetzt hat, daß, wenn sie äußere sein sollen, sie | ||||||
| 23 | an sich selbst, auch ohne Sinne, ihre Existenz haben müßten, in diesem | ||||||
| 24 | Gesichtspunkte alle unsere Vorstellungen der Sinne unzureichend findet, | ||||||
| 25 | die Wirklichkeit derselben gewiß zu machen. | ||||||
| 26 | Der transscendentale Idealist kann hingegen ein empirischer Realist, | ||||||
| 27 | mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist sein, d. i. die Existenz der | ||||||
| 28 | Materie einräumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen | ||||||
| 29 | und etwas mehr als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin | ||||||
| 30 | das cogito, ergo sum anzunehmen. Denn weil er diese Materie und | ||||||
| 31 | sogar deren innere Möglichkeit blos für Erscheinung gelten läßt, die, von | ||||||
| 32 | unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist sie bei ihm nur eine Art | ||||||
| 33 | Vorstellungen (Anschauung), welche äußerlich heißen, nicht als ob sie sich | ||||||
| 34 | auf an sich selbst äußere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen | ||||||
| 35 | auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er | ||||||
| 36 | selbst, der Raum, aber in uns ist. | ||||||
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