Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 225 |
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01 | Jedermann muß gestehen, daß die Behauptung von der einfachen | ||||||
02 | Natur der Seele nur so fern von einigem Werthe sei, als ich dadurch dieses | ||||||
03 | Subject von aller Materie unterscheiden und sie folglich von der Hinfälligkeit | ||||||
04 | ausnehmen kann, der diese jederzeit unterworfen ist. Auf diesen | ||||||
05 | Gebrauch ist obiger Satz auch ganz eigentlich angelegt, daher er auch | ||||||
06 | mehrentheils so ausgedrückt wird: die Seele ist nicht körperlich. Wenn ich | ||||||
07 | nun zeigen kann, daß, ob man gleich diesem Cardinalsatze der rationalen | ||||||
08 | Seelenlehre in der reinen Bedeutung eines bloßen Vernunfturtheils (aus | ||||||
09 | reinen Kategorien) alle objective Gültigkeit einräumt (alles, was denkt, | ||||||
10 | ist einfache Substanz), dennoch nicht der mindeste Gebrauch von diesem | ||||||
11 | Satze in Ansehung der Ungleichartigkeit oder Verwandtschaft derselben | ||||||
12 | mit der Materie gemacht werden könne: so wird dieses eben so viel sein, | ||||||
13 | als ob ich diese vermeintliche psychologische Einsicht in das Feld bloßer | ||||||
14 | Ideen verwiesen hätte, denen es an Realität des objectiven Gebrauchs | ||||||
15 | mangelt. | ||||||
16 | Wir haben in der transscendentalen Ästhetik unläugbar bewiesen, | ||||||
17 | daß Körper bloße Erscheinungen unseres äußeren Sinnes und nicht Dinge | ||||||
18 | an sich selbst sind. Diesem gemäß können wir mit Recht sagen, daß unser | ||||||
19 | denkendes Subject nicht körperlich sei, das heißt, daß, da es als Gegenstand | ||||||
20 | des inneren Sinnes von uns vorgestellt wird, es, in so fern als es | ||||||
21 | denkt, kein Gegenstand äußerer Sinne, d. i. keine Erscheinung im Raume, | ||||||
22 | sein könne. Dieses will nun so viel sagen: es können uns niemals unter | ||||||
23 | äußeren Erscheinungen denkende Wesen als solche vorkommen, oder: wir | ||||||
24 | können ihre Gedanken, ihr Bewußtsein, ihre Begierden etc. nicht äußerlich | ||||||
25 | anschauen; denn dieses gehört alles vor den innern Sinn. In der That | ||||||
26 | scheint dieses Argument auch das natürliche und populäre, worauf selbst | ||||||
27 | der gemeinste Verstand von jeher gefallen zu sein scheint und dadurch | ||||||
28 | schon sehr früh Seelen als von den Körpern ganz unterschiedene Wesen zu | ||||||
29 | betrachten angefangen hat. | ||||||
30 | Ob nun aber gleich die Ausdehnung, die Undurchdringlichkeit, Zusammenhang | ||||||
31 | und Bewegung, kurz alles, was uns äußere Sinne nur | ||||||
32 | liefern können, nicht Gedanken, Gefühl, Neigung oder Entschließung sind | ||||||
33 | oder solche enthalten werden, als die überall keine Gegenstände äußerer | ||||||
34 | Anschauung sind, so könnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den äußeren | ||||||
35 | Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so afficirt, daß | ||||||
36 | er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses Etwas, | ||||||
37 | als Noumenon (oder besser als transscendentaler Gegenstand) betrachtet, | ||||||
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