Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 210 |
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01 | aufsteigende Reihe der Vernunftschlüsse, sich gegen das Vernunftvermögen | ||||||
02 | doch anders verhalten müsse, als die absteigende Reihe, d. i. der | ||||||
03 | Fortgang der Vernunft auf der Seite des Bedingten durch Episyllogismen. | ||||||
04 | Denn da im ersteren Falle das Erkenntniß ( conclusio ) nur als bedingt | ||||||
05 | gegeben ist, so kann man zu demselben vermittelst der Vernunft nicht anders | ||||||
06 | gelangen, als wenigstens unter der Voraussetzung, daß alle Glieder | ||||||
07 | der Reihe auf der Seite der Bedingungen gegeben sind (Totalität in der | ||||||
08 | Reihe der Prämissen), weil nur unter deren Voraussetzung das vorliegende | ||||||
09 | Urtheil a priori möglich ist; dagegen auf der Seite des Bedingten oder der | ||||||
10 | Folgerungen nur eine werdende und nicht schon ganz vorausgesetzte | ||||||
11 | oder gegebene Reihe, mithin nur ein potentialer Fortgang gedacht wird. | ||||||
12 | Daher wenn eine Erkenntniß als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft | ||||||
13 | genöthigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als | ||||||
14 | vollendet und ihrer Totalität nach gegeben anzusehen. Wenn aber eben | ||||||
15 | dieselbe Erkenntniß zugleich als Bedingung anderer Erkenntnisse angesehen | ||||||
16 | wird, die unter einander eine Reihe von Folgerungen in absteigender | ||||||
17 | Linie ausmachen, so kann die Vernunft ganz gleichgültig sein, wie weit | ||||||
18 | dieser Fortgang sich a parte posteriori erstrecke, und ob gar überall Totalität | ||||||
19 | dieser Reihe möglich sei; weil sie einer dergleichen Reihe zu der vor | ||||||
20 | ihr liegenden Conclusion nicht bedarf, indem diese durch ihre Gründe | ||||||
21 | a parte priori schon hinreichend bestimmt und gesichert ist. Es mag nun | ||||||
22 | sein, daß auf der Seite der Bedingungen die Reihe der Prämissen ein | ||||||
23 | Erstes habe als oberste Bedingung, oder nicht und also a parte priori | ||||||
24 | ohne Gränzen sei, so muß sie doch Totalität der Bedingung enthalten, gesetzt | ||||||
25 | daß wir niemals dahin gelangen könnten, sie zu fassen; und die ganze | ||||||
26 | Reihe muß unbedingt wahr sein, wenn das Bedingte, welches als eine daraus | ||||||
27 | entspringende Folgerung angesehen wird, als wahr gelten soll. Dieses | ||||||
28 | ist eine Forderung der Vernunft, die ihr Erkenntniß als a priori bestimmt | ||||||
29 | und als nothwendig ankündigt: entweder an sich selbst, und dann bedarf | ||||||
30 | es keiner Gründe, oder, wenn es abgeleitet ist, als ein Glied einer Reihe | ||||||
31 | von Gründen, die selbst unbedingter Weise wahr ist. | ||||||
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