Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 153 |
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| 01 | irgend einer Wahrnehmung, hinzukommen; was aber mit dieser nach empirischen | ||||||
| 02 | Gesetzen verknüpft ist, ist wirklich, ob es gleich unmittelbar nicht | ||||||
| 03 | wahrgenommen wird. Daß aber im durchgängigen Zusammenhange mit | ||||||
| 04 | dem, was mir in der Wahrnehmung gegeben ist, eine andere Reihe von | ||||||
| 05 | Erscheinungen, mithin mehr wie eine einzige, alles befassende Erfahrung | ||||||
| 06 | möglich sei, läßt sich aus dem, was gegeben ist, nicht schließen und, ohne | ||||||
| 07 | daß irgend etwas gegeben ist, noch viel weniger, weil ohne Stoff sich überall | ||||||
| 08 | nichts denken läßt. Was unter Bedingungen, die selbst blos möglich | ||||||
| 09 | sind, allein möglich ist, ist es nicht in aller Absicht. In dieser aber | ||||||
| 10 | wird die Frage genommen, wenn man wissen will, ob die Möglichkeit der | ||||||
| 11 | Dinge sich weiter erstrecke, als Erfahrung reichen kann. | ||||||
| 12 | Ich habe dieser Fragen nur Erwähnung gethan, um keine Lücke in | ||||||
| 13 | demjenigen zu lassen, was der gemeinen Meinung nach zu den Verstandesbegriffen | ||||||
| 14 | gehört. In der That ist aber die absolute Möglichkeit (die in | ||||||
| 15 | aller Absicht gültig ist) kein bloßer Verstandesbegriff und kann auf keinerlei | ||||||
| 16 | Weise von empirischem Gebrauche sein, sondern er gehört allein der | ||||||
| 17 | Vernunft zu, die über allen möglichen empirischen Verstandesgebrauch | ||||||
| 18 | hinausgeht. Daher haben wir uns hiebei mit einer blos kritischen Anmerkung | ||||||
| 19 | begnügen müssen, übrigens aber die Sache bis zum weiteren, | ||||||
| 20 | künftigen Verfahren in der Dunkelheit gelassen. | ||||||
| 21 | Da ich eben diese vierte Nummer und mit ihr zugleich das System | ||||||
| 22 | aller Grundsätze des reinen Verstandes schließen will, so muß ich noch | ||||||
| 23 | Grund angeben, warum ich die Principien der Modalität gerade Postulate | ||||||
| 24 | genannt habe. Ich will diesen Ausdruck hier nicht in der Bedeutung | ||||||
| 25 | nehmen, welche ihm einige neuere philosophische Verfasser wider den Sinn | ||||||
| 26 | der Mathematiker, denen er doch eigentlich angehört, gegeben haben, nämlich: | ||||||
| 27 | daß Postuliren so viel heißen solle, als einen Satz für unmittelbar | ||||||
| 28 | gewiß ohne Rechtfertigung oder Beweis ausgeben; denn wenn wir das | ||||||
| 29 | bei synthetischen Sätzen, so evident sie auch sein mögen, einräumen sollten, | ||||||
| 30 | daß man sie ohne Deduction, auf das Ansehen ihres eigenen Ausspruchs, | ||||||
| 31 | dem unbedingten Beifalle aufheften dürfe, so ist alle Kritik des Verstandes | ||||||
| 32 | verloren; und da es an dreusten Anmaßungen nicht fehlt, deren sich auch | ||||||
| 33 | der gemeine Glaube (der aber kein Creditiv ist) nicht weigert: so wird | ||||||
| 34 | unser Verstand jedem Wahne offen stehen, ohne daß er seinen Beifall den | ||||||
| 35 | Aussprüchen versagen kann, die, obgleich unrechtmäßig, doch in eben demselben | ||||||
| 36 | Tone der Zuversicht als wirkliche Axiomen eingelassen zu werden | ||||||
| 37 | verlangen. Wenn also zu dem Begriffe eines Dinges eine Bestimmung | ||||||
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