Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 107 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Man kann aber doch von demselben auch einen positiven Gebrauch | ||||||
02 | machen, d. i. nicht blos um Falschheit und Irrthum (so fern er auf dem | ||||||
03 | Widerspruch beruht) zu verbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. | ||||||
04 | Denn wenn das Urtheil analytisch ist, es mag nun verneinend oder | ||||||
05 | bejahend sein, so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze des Widerspruchs | ||||||
06 | hinreichend können erkannt werden. Denn von dem, was in der | ||||||
07 | Erkenntniß des Objects schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das | ||||||
08 | Widerspiel jederzeit richtig verneint, der Begriff selber aber nothwendig | ||||||
09 | von ihm bejaht werden müssen, darum weil das Gegentheil desselben dem | ||||||
10 | Objecte widersprechen würde. | ||||||
11 | Daher müssen wir auch den Satz des Widerspruchs als das allgemeine | ||||||
12 | und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntniß | ||||||
13 | gelten lassen; aber weiter geht auch sein Ansehen und Brauchbarkeit | ||||||
14 | nicht, als eines hinreichenden Kriterium der Wahrheit. Denn daß | ||||||
15 | ihm gar keine Erkenntniß zuwider sein könne, ohne sich selbst zu vernichten, | ||||||
16 | das macht diesen Satz wohl zur conditio sine qua non , aber nicht zum | ||||||
17 | Bestimmungsgrunde der Wahrheit unserer Erkenntniß. Da wir es nun | ||||||
18 | eigentlich nur mit dem synthetischen Theile unserer Erkenntniß zu thun | ||||||
19 | haben, so werden wir zwar jederzeit bedacht sein, diesem unverletzlichen | ||||||
20 | Grundsatz niemals zuwider zu handeln, von ihm aber in Ansehung der | ||||||
21 | Wahrheit von dergleichen Art der Erkenntniß niemals einigen Aufschluß | ||||||
22 | gewärtigen können. | ||||||
23 | Es ist aber doch eine Formel dieses berühmten, obzwar von allem | ||||||
24 | Inhalt entblößten und blos formalen Grundsatzes, die eine Synthesis enthält, | ||||||
25 | welche aus Unvorsichtigkeit und ganz unnöthiger Weise in ihr gemischt | ||||||
26 | worden. Sie heißt: Es ist unmöglich, daß etwas zugleich sei und | ||||||
27 | nicht sei. Außer dem daß hier die apodiktische Gewißheit (durch das Wort | ||||||
28 | unmöglich) überflüssiger Weise angehängt worden, die sich doch von selbst | ||||||
29 | aus dem Satz muß verstehen lassen, so ist der Satz durch die Bedingung | ||||||
30 | der Zeit afficirt und sagt gleichsam: Ein Ding = A, welches etwas = B | ||||||
31 | ist, kann nicht zu gleicher Zeit non B sein, aber es kann gar wohl beides | ||||||
32 | (B sowohl, als non B) nach einander sein. Z. B. ein Mensch, der jung ist, | ||||||
33 | kann nicht zugleich alt sein, eben derselbe kann aber sehr wohl zu einer | ||||||
34 | Zeit jung, zur andern nicht jung, d. i. alt sein. Nun muß der Satz des | ||||||
35 | Widerspruchs als ein blos logischer Grundsatz seine Aussprüche gar nicht | ||||||
36 | auf die Zeitverhältnisse einschränken, daher ist eine solche Formel der Absicht | ||||||
37 | desselben ganz zuwider. Der Mißverstand kommt blos daher, daß | ||||||
[ Seite 106 ] [ Seite 108 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |