Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 097 |
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01 | Schule ersetzen kann; weil, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande | ||||||
02 | Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam | ||||||
03 | einpfropfen kann: so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, | ||||||
04 | dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in | ||||||
05 | dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe | ||||||
06 | vor Mißbrauch sicher.*) Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger | ||||||
07 | kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im | ||||||
08 | Kopfe haben in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer | ||||||
09 | werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, | ||||||
10 | entweder weil es ihm an natürlicher Urtheilskraft (obgleich nicht am | ||||||
11 | Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, | ||||||
12 | aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, | ||||||
13 | oder auch darum weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte | ||||||
14 | zu diesem Urtheile abgerichtet worden. Dieses ist auch der einige | ||||||
15 | und große Nutzen der Beispiele, daß sie die Urtheilskraft schärfen. Denn | ||||||
16 | was die Richtigkeit und Präcision der Verstandeseinsicht betrifft, so thun | ||||||
17 | sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten | ||||||
18 | die Bedingung der Regel adäquat erfüllen (als casus in terminis ) und | ||||||
19 | überdem diejenige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln | ||||||
20 | im Allgemeinen und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung | ||||||
21 | nach ihrer Zulänglichkeit einzusehen, und sie daher zuletzt mehr | ||||||
22 | wie Formeln als Grundsätze zu gebrauchen angewöhnen. So sind Beispiele | ||||||
23 | der Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen derjenige, dem es am | ||||||
24 | natürlichen Talent derselben mangelt, niemals entbehren kann. | ||||||
25 | Ob nun aber gleich die allgemeine Logik der Urtheilskraft keine | ||||||
26 | Vorschriften geben kann, so ist es doch mit der transscendentalen ganz | ||||||
27 | anders bewandt, so gar daß es scheint, die letztere habe es zu ihrem eigentlichen | ||||||
28 | Geschäfte, die Urtheilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes | ||||||
29 | durch bestimmte Regeln zu berichtigen und zu sichern. Denn um dem | ||||||
30 | Verstande im Felde reiner Erkenntnisse a priori Erweiterung zu verschaffen, | ||||||
*) Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jenem (der secunda Petri ) zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen. | |||||||
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