Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 541 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | ein System der Philosophie, z. B. das Wolffische, eigentlich gelernt hat, | ||||||
02 | ob er gleich alle Grundsätze, Erklärungen und Beweise zusammt der Eintheilung | ||||||
03 | des ganzen Lehrgebäudes im Kopf hätte und alles an den Fingern | ||||||
04 | abzählen könnte, doch keine andere als vollständige historische | ||||||
05 | Erkenntniß der Wolffischen Philosophie; er weiß und urtheilt nur so | ||||||
06 | viel, als ihm gegeben war. Streitet ihm eine Definition, so weiß er nicht, | ||||||
07 | wo er eine andere hernehmen soll. Er bildete sich nach fremder Vernunft, | ||||||
08 | aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d. i. das Erkenntniß | ||||||
09 | entsprang bei ihm nicht aus Vernunft, und ob es gleich objectiv | ||||||
10 | allerdings ein Vernunfterkenntniß war, so ist es doch subjectiv bloß historisch. | ||||||
11 | Er hat gut gefaßt und behalten, d. i. gelernt, und ist ein Gipsabdruck | ||||||
12 | von einem lebenden Menschen. Vernunfterkenntnisse, die es objectiv | ||||||
13 | sind (d. i. anfangs nur aus der eigenen Vernunft des Menschen entspringen | ||||||
14 | können), dürfen nur dann allein auch subjectiv diesen Namen | ||||||
15 | führen, wenn sie aus allgemeinen Quellen der Vernunft, woraus auch die | ||||||
16 | Kritik, ja selbst die Verwerfung des Gelernten entspringen kann, d. i. aus | ||||||
17 | Principien, geschöpft worden. | ||||||
18 | Alle Vernunfterkenntniß ist nun entweder die aus Begriffen, oder | ||||||
19 | aus der Construction der Begriffe; die erstere heißt philosophisch, die | ||||||
20 | zweite mathematisch. Von dem inneren Unterschiede beider habe ich schon | ||||||
21 | im ersten Hauptstücke gehandelt. Ein Erkenntniß demnach kann objectiv | ||||||
22 | philosophisch sein und ist doch subjectiv historisch, wie bei den meisten | ||||||
23 | Lehrlingen und bei allen, die über die Schule niemals hinaussehen und | ||||||
24 | zeitlebens Lehrlinge bleiben. Es ist aber doch sonderbar, daß das mathematische | ||||||
25 | Erkenntniß, so wie man es erlernt hat, doch auch subjectiv für | ||||||
26 | Vernunfterkenntniß gelten kann, und ein solcher Unterschied bei ihm nicht | ||||||
27 | so wie bei dem philosophischen stattfindet. Die Ursache ist, weil die Erkenntnißquellen, | ||||||
28 | aus denen der Lehrer allein schöpfen kann, nirgend anders | ||||||
29 | als in den wesentlichen und ächten Principien der Vernunft liegen | ||||||
30 | und mithin von dem Lehrlinge nirgend anders hergenommen, noch etwa | ||||||
31 | gestritten werden können; und dieses zwar darum, weil der Gebrauch der | ||||||
32 | Vernunft hier nur in concreto , obzwar dennoch a priori, nämlich an der | ||||||
33 | reinen und eben deswegen fehlerfreien Anschauung, geschieht und alle | ||||||
34 | Täuschung und Irrthum ausschließt. Man kann also unter allen Vernunftwissenschaften | ||||||
35 | (a priori) nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie | ||||||
[ Seite 540 ] [ Seite 542 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |